Viele Stimmen − ein gemeinsames Ziel

Der Luzerner Autor Christoph Schwyzer macht sich Gedanken über die Kirche von morgen und beehrt die SKZ mit einem zum Nachdenken anregenden Gastbeitrag.

 

Die Kirche von morgen –
erinnert mich an meine Liebschaften von gestern.

An mein krampfhaft verbissenes Suchen nach der passenden, wenn irgendwie möglich perfekten Frau. Jedes Mal hatte ich mich schnell verliebt; aber jedes Mal hatte mein, wie ich mir einbildete, so scharfer, objektiver, aber schlussendlich zersetzender Blick am Gegenüber unzählige Mängel und Fehler und Behinderungen entdeckt: an der Biografie, an einzelnen Körperstellen, an der Geisteshaltung, an Interessen und Begabungen. Und immer hätte sich natürlich die jeweilige Freundin ändern sollen und sicher nicht ich mich selbst. Im Gegenzug lautete mein hochheiliges Versprechen: Da ich dich eigentlich mag, werde ich dich, wenn du dies und jenes an dir geändert haben wirst, aus ganzem Herzen, aus ganzem Verstand und aus all meinen Kräften lieben. Aber bitte mach vorwärts, ändere dich jetzt, die Zeit wird knapp. Meine Geduld hält nicht ewig, ich warte schon zu lange, vielleicht halte ich es noch ein paar Wochen mit dir aus. Jede Treue ist vergänglich, hat ihre Grenzen; und wenn ich nicht bald Resultate sehe – dann bin ich weg. Für immer.

Die Kirche von morgen –
erinnert mich an eine Frau von heute, die wunderschön singt.

Meine Frau. Seit Jahren singt sie in einem Chor, der anspruchsvolle Werke zur Aufführung bringt. Sie schätzt die Gemeinschaft, das gemeinsame Singen, auch wenn sie von ihrer Begabung und Ausdauer her manchmal unterfordert ist. Es gibt jedoch einige im Chor, die nicht länger in der Menge untergehen, bloss eine Stimme unter vielen sein wollen; sie möchten selber bestimmen können, was gesungen wird. Sie möchten nur noch Lieder singen, die sie selbst ausgewählt haben, die ihnen auf Anhieb gefallen, ihrem eigenen Temperament, ihrem Musikgeschmack entsprechen. Sie wollen nicht länger etwas singen müssen, was andere für sie ausgewählt haben.

Meine Frau zeigt zwar Verständnis für solche Meinungen, und hat selbst auch schon mit dem Gedanken gespielt, nach all den Jahren aus dem Chor auszutreten, etwas für sich selbst zu machen, in ihrem Tempo, begleitet von ihren Lieblingsinstrumenten. Aber dann wurde ihr schlagartig klar, wohin solche Abwanderungsgedanken führen würden: Macht jeder nur noch seine Musik, will jeder nur noch seine Stimme hören, dann stirbt der Chor. Aber auch schon drei, vier Sängerinnen und Sänger, die austreten, schwächen den Chor; der Schwung, das Volumen schrumpfen.

Der Chor, sagt meine Frau, ist und bleibt eine zusammengewürfelte Gruppe. Die Chorleiterin hat eine höchst anspruchsvolle Aufgabe: sie muss uns fordern, ermutigen; sie muss uns selbstlos auf das gemeinsame Ziel hinführen. Und wir, wollen wir wirklich gemeinsam singen, müssen uns diesem Ziel unterordnen. Gibt es etwas Schöneres, als gemeinsam weiterzukommen, über uns selbst hinauszuwachsen und andere Menschen mit unserem Gesang zu begeistern, anzustecken? Der Funke kann nur springen, wenn wir selber für unsere Sache brennen.

Die Kirche von morgen –
ist die Kirche von heute: ein vielstimmiger Chor mit einem gemeinsamen Ziel.

Christoph Schwyzer


Christoph Schwyzer

Christoph Schwyzer, 1974 in Luzern geboren und in Willisau aufgewachsen, lebt mit seiner Familie in Luzern. Er arbeitete als Lehrer, Journalist und Altersheimseelsorger und ist heute als Herausgeber, Schriftsteller und Rezitator tätig.

Veröffentlichungen (Auswahl): «Der Staubwedel muss mit», Limmat Verlag, Zürich 2019; «Chasch dänkä! – Lina Fedier: Über Schneestürme, Schmetterlingskinder und Gottvertrauen», Limmat Verlag, Zürich 2014; «Jakob und der Wolldeckenvogel», Verlag Martin Wallimann, Alpnach 2013; «Valendas – Die Welt im Dorf», Limmat Verlag, Zürich 2011; «Wenzel», Verlag Martin Wallimann, Alpnach 2011.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente