Vom Bildungsanliegen zum Wiederaufbau

Papst Clemens XIV. hob 1773 den Jesuitenorden auf. Paul Oberholzer SJ gibt einen Einblick, wie es im Wallis unter Napoleons Duldung zu einem Neuanfang des Jesuitenordens im deutschsprachigen Raum kam.

In der Geschichte der Gesellschaft Jesu spielt die Schweiz eine marginale Rolle. Verglichen mit Indien und Japan, wo sich die ersten Jesuiten 1542 und 1549 niedergelassen hatten, sind sie 1574 spät in die Eidgenossenschaft gekommen. Die Kollegien von Luzern, Freiburg, Porrentruy, Solothurn und Brig präsentieren wohl ansehnliche Gebäude, muten aber im Vergleich zu denen in München und Ingolstadt, noch mehr aber zu denen in Rom, Madrid, Sevilla und Mexiko City bescheiden an. In den Schweizer Niederlassungen residierten zwölf bis zwanzig Jesuiten, die ungefähr 100 bis 200 Schüler unterrichteten – die grösste von ihnen zählte bestenfalls zu den mittleren. Vor allem deswegen war dem Antijesuitismus, der die romanischen Länder in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfasste, in der Eidgenossenschaft ein moderates Echo beschieden.

Als 1773 die Nachricht von der päpstlich verfügten Aufhebung des Ordens eintraf, baten die zuständigen Behörden die Jesuiten, in ihren Kollegien zu bleiben und den Unterricht fortzusetzen. Was sich im Moment änderte, war ihre Herauslösung aus dem weltweiten Verband des Ordens. Dieser muss sich aber auch im Zustand einer gewissen Erschöpfung befunden haben. Denn ein Bedauern der Betroffenen darüber, nun zu Lehrern eines städtischen Gymnasiums zu werden, ist nicht überliefert.

Ein stiller Neuanfang

Auch wenn der Einmarsch der Franzosen 1798 von vielen Seiten mit Genugtuung aufgenommen wurde, machte sich bald Enttäuschung breit. Napoleon musste einsehen, dass die von ihm erlassene Helvetische Verfassung am Widerstand der breiten Bevölkerung scheiterte, worauf er 1803 die moderatere Mediation einführte, die bis 1815 in Geltung blieb. Diese Zeit war geprägt von politischer Instabilität und einem orientierungslosen Suchen nach neuen gesellschaftlichen Ordnungen. Reaktionäre Kräfte trauerten dem Ancien Régime nach, wussten aber genau, dass dessen Zeit vorbei war. Andere bewunderten Napoleon, wollten sich aber nie mit der vorgesehenen Abhängigkeit vom Empire français abfinden. Die Politiklandschaft war aufgesplittert in unzählige Gruppen verschiedener Schattierungen. Zudem war die Schweiz Kriegsschauplatz verschiedener auswärtiger Mächte. Dass in einer solchen Zeit die Wirtschaft stagnierte, ist evident. Die Staatskassen waren leer. Ein einziges Anliegen verband alle Verantwortungsträger: die Sorge um eine solide Ausbildung der Jugend. So regten sich bereits 1803 erste Stimmen – auch aus protestantischem Lager –, die eine Wiederherstellung der alten Jesuitenschulen forderten. In diese Zeit politischer Unbeständigkeit fällt der zögerliche Neuanfang einer Gemeinschaft von geistlichen Lehrern, die in Sitten in ignatianischer Gesinnung das Gymnasium übernahmen und 1814 zu den ersten Jesuiten des neu errichteten Ordens im deutschen Sprachraum wurden.

Schauplatz Wallis

Die Wiederherstellung der Gesellschaft Jesu gilt allgemein als Manifestation des Willens, in vorrevolutionäre Verhältnisse zurückzukehren. Dass dies aber zuerst im Wallis geschah, muss hellhörig stimmen. Denn bereits 1802 hat Napoleon dieses zur autonomen Republik erklärt, um es intensiver unter Kontrolle zu halten. 1810 folgte sogar die Eingliederung ins Empire français, die 1813 mit dem Abzug der französischen Truppen endete. Wie konnte sich die werdende Gesellschaft Jesu ausgerechnet in einer solchen Region entwickeln? War die Religionspolitik von Napoleon nicht ganz so radikal, war die Gesellschaft Jesu nicht ganz so restaurativ wie in der herkömmlichen Geschichtsschreibung dargestellt?

Die Sorge um das Schulwesen

Urheber des jesuitischen Neustarts im Wallis war Anton Augustini (1742–1823), erster Landeshauptmann der autonomen Republik, überzeugter Anhänger Napoleons – aber auch einstiger Zögling des Jesuitenkollegiums in Brig. In seiner Amtszeit beschäftigte er sich zunehmend mit einer Neuordnung des Gymnasialwesens, das seit 1798 nicht mehr in den Händen der Kirche, sondern des Staates lag. Nur war es nicht einfach, in einer solchen Zeit wirtschaftlicher Depression Mittel für die Besoldung des Lehrkörpers zu finden, weswegen das Gymnasium dem Domkapitel anvertraut wurde. Nur musste Augustini einsehen, dass das keine dauerhafte Lösung war, zumal die Kanoniker vorwiegend im Priesterseminar unterrichteten. 1804 beklagte sich der Domherr Stephan Oggier (1757–1812) über das tiefe Niveau des Gymnasiums: Die in den alten Jesuitenschulen gelehrte Physik fehlte, weswegen Abgänger in der gegenwärtigen Zeit nicht mehr ernst genommen würden. Augustini kontaktierte darauf das Salvatorkolleg in Augsburg, das noch von Ex-Jesuiten geführt war, und die Väter des Glaubens Jesu, eine 1797 mit dem Ziel der Wiederherstellung des Jesuitenordens gegründete Gemeinschaft in Italien. Während aus Augsburg eine Absage eintraf, zeigten sich die jungen Ordensleute in Italien gesprächsbereit.

Der Staatsrat verhandelt

Augustini führte bereits im Herbst mit zwei aus Padua angereisten Ordensmännern intensive Verhandlungen, die erstaunlich schnell gediehen. So unterzeichnete bereits am 27. November der Landrat eine Übereinkunft, wonach sechs Patres gemäss Lehrplan der Gesellschaft Jesu fünf Gymnasialklassen unterrichten sollten. Angestrebt war neben profunden Kenntnissen in lateinischer Sprache auch Unterricht in Mathematik und Physik. Dabei handelte es sich nicht um die jesuitische Ratio studiorum von 1599, sondern um eine 1768 in Brig befolgte Schulordnung. Den Ordensmännern wurde das frühere Gebäude der Jesuiten zur Nutzung überlassen, Eigentümer blieb weiterhin der Staat, der aber auch für das Mobiliar aufkam. In ihrer Kapelle durften sie seelsorgliche Aktivitäten vornehmen, wobei sie dem Pfarrklerus nicht Konkurrenz schaffen sollten. Zur Entlohnung wurden jährlich 200 Louisdor in Aussicht gestellt, die neuen Lehrer wurden also Staatsangestellte. Die Stiftung der einstigen Jesuitenniederlassung blieb in staatlicher Verwaltung, was der neue Orden nie in Frage stellte. Die Berufung bedeutete also nie die Rückgabe vormals jesuitischer Güter. Die neuen Lehrer konnten wohl Schenkungen entgegennehmen, die aber vom Lohn abgezogen wurden. Für die Äufnung neuen Stiftungskapitals fehlte somit jeglicher Anreiz.

Diskutiert wurde im Landrat, Französisch als alternative Unterrichtssprache neben dem etablierten Deutsch einzuführen, was sich aus finanziellen Gründen nicht durchsetzen liess. Dahinter lag aber doch die Absicht, die einstigen Untertanen des Unterwallis zu integrieren, also republikanische Postulate zu verwirklichen.

Der Walliser Staatsrat liess sich wohl vom Erbe der alten Gesellschaft Jesu inspirieren, dachte aber nicht an die Wiederherstellung vergangener Zustände, sondern an einen Neubeginn unter veränderten Bedingungen. Mit den Vätern des Glaubens Jesu verhandelte er eigenständig, informierte Bischof, Generalvikar und Domkapitel wohl korrekt, stellte sie aber letztlich vor vollendete Tatsachen. Der Bischof zeigte sich über die jesuitenähnliche Gemeinschaft erfreut, das Domkapitel gab sich hingegen reserviert und sprach nur eine bescheidene Unterstützung.

Der Vorposten im deutschen Sprachraum

Die Väter des Glaubens Jesu wollten in Wirklichkeit Jesuiten sein und strebten einen möglichst baldigen Übertritt in den seit 1801 in Russland zugelassenen Orden an. In der amtlichen Korrespondenz werden sie auch wiederholt als Jesuiten bezeichnet. Die Bevölkerung nahm sie auch als solche wahr. Es ist völlig undenkbar, dass die französischen Vertreter im Land dies nicht mitbekommen hätten. Dennoch erfolgte keine Intervention. Einige Jahre später versicherte der Rektor sogar dem französischen Erziehungsminister, dass sein Unterricht ganz den republikanischen Werten entspreche.

Bereits 1806 sagten sich die Lehrer von der Gesellschaft des Glaubens Jesu los und wollten sich in Russland dem Jesuitenorden anschliessen. Die Regierung hielt sie aber zurück, und auch Papst Pius VII. wünschte sie als Vorposten der sich neu bildenden Gesellschaft Jesu im deutschen Sprachraum. So meldeten sich bald neue Interessenten für das Ordensleben; die Gemeinschaft wuchs langsam, aber stetig. Im September 1814, nach der päpstlichen Wiederherstellung vom 7. August, wurde schliesslich der Status der Gymnasiallehrer von Sitten als Jesuiten kirchenrechtlich anerkannt. Die Walliser Bevölkerung hatte aber bereits neun Jahre mit diesen ignatianisch orientierten Priestern gelebt.

Paul Oberholzer SJ


Paul Oberholzer SJ

PD Dr. P. Paul Oberholzer SJ (Jg. 1968) studierte katholische Theologie in Innsbruck und Geschichte in Innsbruck und Freiburg i. Ü. 2001 trat er in die Gesellschaft Jesu ein. Von 2008 bis 2012 arbeitete er am Institutum Historicum Societatis Iesu in Rom mit. Seit 2015 ist er Dozent für Geschichte des Mittelalters an der Universität Gregoriana in Rom; in diese Zeit fällt auch seine Habilitation in Mittlerer und Neuerer Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü.