«Sie wollen Verantwortung übernehmen»

Höhere Bildung für junge Menschen in Flüchtlingscamps, in abgelegenen oder Kriegsgebieten, das bietet «Jesuit Worldwide Learning» (JWL).1 Pascal Meyer SJ war zwei Jahre für JWL im Dienst. Mit ihm sprach die SKZ über seine Aufgaben und Erfahrungen.

Pascal Meyer SJ (Jg. 1983) bei einem Besuch in Mullaitivu im Norden Sri Lankas im Rahmen seiner Tätigkeit bei Jesuit Worldwide Learning. Seit 2021 studiert er Theologie in Bogotà (Kolumbien). (Bild: zvg)

 

SKZ: Pascal Meyer, Sie sind in der Nähe von Zürich aufgewachsen und studieren jetzt an der Päpstlichen Universität Javeriana in Bogotà (Kolumbien) Theologie. Was schätzen Sie besonders an diesem Studienort?
Pascal Meyer SJ: Kolumbien ist ein faszinierendes Land mit einer beeindruckenden Natur und unglaublich liebenswürdigen Menschen. Gleichzeitig ist das Land in mehreren Regionen von Armut, Gewalt oder den Wunden der Vergangenheit geprägt. Ein Theologiestudium in Bogotá ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Inhalten – es ist eine Auseinandersetzung mit dem Glauben an einen Gott des Schweigens im Angesicht grossen Leids. Glücklicherweise nimmt die Javeriana diese Spannung auf und macht sie zum konkreten Thema des Theologiestudiums, insbesondere in der «Theologie des menschlichen Handelns», inspiriert durch das Zweite Vatikanische Konzil. Ich lese die Bibel heute mit anderen Augen als noch vor eineinhalb Jahren. Und hinsichtlich so mancher Aussage aus dem Vatikan oder Elementen der Volksfrömmigkeit bin ich sehr zurückhaltend geworden.

Inwieweit steht die Wahl dieses Studienortes im Zusammenhang mit Ihrer früheren Tätigkeit bei «Jesuit Worldwide Learning – Higher Education at the Margins»?
Viele sehen mich als Jesuit mit «Interesse für internationales Engagement». Kolumbien eröffnet mir neue Erfahrungen in einer völlig neuen Welt. Das steht in derselben Linie wie mein Magisterium, mein Praktikum der Jesuitenausbildung, bei JWL: Erfahrungen sammeln in Übersee, die Komplexität der Welt erkennen und schätzen lernen, mir eine kulturelle und sprachliche Flexibilität aneignen.

Was ist «Jesuit Worldwide Learning»? Welche Ziele strebt es an?
JWL ist das internationale Hochschulwerk der Zentraleuropäischen Jesuitenprovinz. In über zwanzig Ländern ist JWL mit sogenannten «Learning Centers» vertreten, wo talentierten Menschen ein Zugang zu hochwertiger Hochschulbildung ermöglicht wird. Diese richtet sich einerseits an Menschen, die in Flüchtlingscamps wie Kakuma (Kenia) oder Dzaleka (Malawi) oder in ehemaligen Kriegsgebieten wie Sri Lanka oder Nordirak oder in weit abgelegenen Gebieten wie Westsambia oder Nordafghanistan leben. Eine solide akademische oder professionelle Ausbildung sollte für alle Menschen unabhängig ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihres Aufenthalts­status möglich sein. Deshalb werden verschiedene Kurse angeboten: die mehrjährigen Studiengänge Sustainable Development, Management oder Leadership richten sich an Menschen mit Hochschulreife. Die etwas kürzeren, professionellen Kurse des Learning Facilitators, Peace Leaders, Ecotourisms oder Sport Facilitators sind auch mit einer guten Sekundarschulbildung möglich. Bislang ist Englisch die Voraussetzung, um teilnehmen zu können. Wichtig ist dabei, dass die Lerninhalte nicht nur online, sondern auch vor Ort im Kontakt und Gespräch mit anderen Studierenden und Studienbegleitern erfolgen. Es ist ein «blended learning»-Modell: ein Mix aus Online- und Offline-Lerninhalten, stets im Geiste der jesuitischen Pädagogik, welche die kritische Analyse unserer Umwelt und die persönliche Reflexion fördert. Unsere Alumni werden dadurch zu kritisch und interkulturell denkenden Menschen ausgebildet und sie wollen in ihrer Gemeinschaft oder Gesellschaft Verantwortung übernehmen.

Wie ist dieses Bildungsprogramm entstanden?
Zu Beginn war es ein Projekt des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes (JRS)2 für Flüchtlinge einiger afrikanischer Camps oder Binnenvertriebene des Nahen Ostens. Das Projekt wurde jedoch wegen diverser Gründe nicht mehr vom JRS weitergeführt – dafür aber unter Führung des neuen Werkes Jesuit Worldwide Learning. Damit wird die bald fünfhundertjährige Bildungstradition der Jesuiten weitergeführt, wie sie bereits in den frühen Jahren des Ordens angedacht war: «Bildung, gratis» stand damals an der Kollegiumstür in Messina, Italien. Bald aber entwickelten sich die Jesuitenschulen und Universitäten zu Kaderschmieden für besser verdienende Familien oder Mitglieder des Klerus. Man denke an renommierte Universitäten wie die Gregoriana in Rom, die Georgetown University in Washington oder das Ataneo in Manila. JWL orientiert sich hier stärker am ursprünglichen Gedanken des Bildungszugangs für arme Menschen. In der Regel können Studierende kostenlos bei JWL studieren, müssen sich allerdings selbstständig darum bemühen, die Lernzentren ein- bis fünfmal pro Woche zu erreichen. In einem Flüchtlingscamp wie Kakuma oder im Norden Afghanistans kann das durchaus ein Gehweg von zwei bis drei Stunden bedeuten – pro Weg.

Was war Ihre Aufgabe bei «Jesuit Worldwide Learning»?
Ich war der «internationale Hochschulseelsorger» für die Studierenden. So etwas wie die gute Seele des Werks, die an allen Standorten ein- bis zweimal pro Jahr auf Besuch kommt, die Studierenden und Mitarbeitenden trifft zu Gesprächen, sich Notizen macht zu Verbesserungsvorschlägen zum Studienablauf, zur Zusammenarbeit zwischen Studentenschaft und Lehrpersonal und so weiter. Es war in erster Linie Beziehungsarbeit. Wir müssen wissen, wer unsere Studentinnen und Studenten sind. Das geht nur über den persönlichen Kontakt.

Wie werden Flüchtlinge in Camps auf dieses Bildungsprogramm aufmerksam?
Wir haben Informationswochen, in welchen unsere Koordinatorinnen und Koordinatoren verschiedene Gemeinschaften in der Region oder in Camps besuchen und aktiv für die Kursprogramme werben. Die wichtigsten Kriterien für die Hochschulkurse, die in der Regel drei Jahre dauern, sind die persönliche Motivation, Flexibilität und das Durchhaltevermögen – die Kurse sind bislang auf Englisch, was nicht immer die erste oder zweite Sprache der Menschen ist. Formell ist eine erfolgreich abgeschlossene Sekundarschulbildung im Sinne der High Schools notwendig. Wer noch kein Englisch spricht, kann sich in unseren Englischkursen einschreiben.

Wo liegen die grössten Herausforderungen für die Studierenden?
Die Herausforderungen sind regional sehr unterschiedlich. In Afghanistan und einigen Flüchtlingscamps sind Distanzen zum Lernzentrum, was bei Schnee oder starken Regenfällen noch verstärkt wird, oder instabile Internetverbindungen sehr herausfordernd. In einigen Ländern müssen sich junge Studentinnen zudem gegen die lokale patriarchale Kultur durchsetzen. In manchen Lernzentren klagen einige über finanzielle Probleme, welche sie zwingen, einer Arbeit nachzugehen, wodurch aber das Studium meistens auf den späten Nachmittag oder Abend verlegt werden muss. Für das Team der Dozierenden oder Tutoren ist es wichtig, solche Aspekte zu berücksichtigen.

Erzählen Sie uns zwei eindrückliche Erfahrungen aus Ihrer Arbeit bei «Jesuit Worldwide Learning»!
Ich habe Daikundi im Norden Afghanistans noch vor der Machtübernahme der Taliban besuchen dürfen. Unser mehrjähriges Engagement hat diese Region massiv geprägt: Hochschulbildung für junge Frauen Seite an Seite mit ihren männlichen Kollegen war plötzlich Realität geworden. Der Grossteil unserer Lernzentren wurde von Absolventinnen unserer Bildungsprogramme geleitet; in  einigen Dörfern kamen die Menschen zum ersten Mal über die Digitalisierung mit dem Rest der Welt in Kontakt. Es zeigte die Früchte unserer Bildungsarbeit. Die Ereignisse von 2021 haben die Gesamtsituation Afghanistans enorm verändert. Es scheint jedoch, dass die Gespräche mit den Taliban einigermassen erfolgreich verliefen und das Bildungsangebot weitergeführt werden kann. Ein Besuch unserer Studenten in Mullaitivu im Norden Sri Lankas hat mich ebenfalls betroffen gemacht. Viele Häuser zeigen Einschusslöcher; die Bemalungen der lokalen katholische Kirche sind auf einer Höhe von 1.50 Meter zerstört; einige Studenten haben nur ein Bein, einen Arm oder ein Auge: alles Spuren des Bürgerkriegs und des Tsunamis. Auch viele Jahre danach ist die schreckliche Vergangenheit allgegenwärtig. Spricht man die jungen Menschen darauf an, dann lächeln sie zwar, doch ihre Worte sind voll von Trauer über das Erlebte. Und dann am Ende bitten sie dich: «Bitte vergiss uns nicht. Bitte erzähl anderen Menschen von uns.» Es gibt vergessene Regionen in dieser Welt, aber die Regierungen sind nicht immer in der Lage, die Infrastruktur aufzubauen oder jungen, begabten Menschen eine Perspektive zu bieten. Mir haben meine Reisen gezeigt, dass es die Präsenz der Jesuiten und eines Werks wie JWL braucht.

Interview: Maria Hässig

 

1 Mehr Informationen zum Projekt Jesuit Worldwide Learning unter: www.jwl.org

2 Mehr Informationen zum Flüchtlingsdienst der Jesuiten unter www.jesuiten.org/was-wir-tun/gerechtigkeit/jrs-jesuiten-fluechtlingsdienst

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente