Vom Buch zum Produktemix

Auf dem Weg zum Nachfolgeprodukt des Kirchengesangbuchs (KG) ist ein weiterer wichtiger Schritt erfolgt: Am Hearing vom 7. Mai wurde das geplante «KG_NEU» vorgestellt und diskutiert.

Welche zentrale Bedeutung dem Singen im Gottesdienst zukommt, haben die Beschränkungen in der Zeit der Pandemie wieder neu ins Bewusstsein gerückt: Die singende und betende Gemeinde ist zentraler Ort der Erfahrung der Gegenwart Christi (vgl. SC 7). Der Gesang ist neben Gebet und rituellem Handeln ein eigenständiges liturgisches Geschehen (vgl. SC 33) und eine bevorzugte Form der Verwirklichung tätiger Teilnahme im Gottesdienst (vgl. SC 14). Im Singen kann ganzheitlich erfahren werden, dass Gott auch im Hier und Heute befreiend und erlösend wirkt. Deshalb trägt die Kirche eine hohe Verantwortung für die Weiterentwicklung des Kirchengesangs.

Die Kirche der Deutschschweiz hat diese Aufgabe stets sehr ernst genommen. Mit dem im Jahr 1966 realisierten ersten gemeinsamen Kirchengesangbuch (KGB) übernahm sie eine Vorreiterrolle im deutschen Sprachraum, wo das «Gotteslob» erst 1975 erschien. Mit dem Kirchengesangbuch (KG) von 1998 gelang ihr wieder ein wegweisender Wurf. Nach mehr als zwanzig Jahren ist nun der Zeitpunkt gekommen, um auf die Herausforderungen und Chancen des Kirchengesangs der Zukunft zu schauen. Unter der Leitung von Abt Urban Federer wurde von der Deutschschweizerischen Ordinarienkonferenz (DOK) dafür eine Arbeitsgruppe eingerichtet.

Was ist bislang geschehen?

Um Meinungsbilder und Voten bezüglich künftiger Herausforderungen und möglicher pastoraler Zielsetzungen für den Kirchengesang einzuholen, wurde im Mai/Juni 2020 eine breit angelegte Online-Umfrage seitens des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts in St. Gallen (SPI) durchgeführt. Im Rahmen eines Hearings im September 2020 wurden sodann die Ergebnisse der Umfrage in einem Kreis von Fachleuten aus den Bistumsleitungen, der Seelsorge und der Kirchenmusik, aus verschiedenen Verbänden, Gruppen und Gremien diskutiert. Sowohl die Umfrage als auch das Hearing haben eine sehr grosse Übereinstimmung in der Wahrnehmung der Zukunftsherausforderungen und der wünschenswerten Ziele gezeigt. Allein die sehr hohe Beteiligung (über 1000 beantwortete Fragebögen) und das intensive Engagement der Fachpersonen am Hearing haben gezeigt, dass der Kirchengesang der Zukunft zwar vor grossen Herausforderungen steht, dass er aber auch auf eine breite und lebendige Unterstützung zählen kann.

Im November 2020 beauftragte die DOK ermutigt durch das grosse Engagement für den Kirchengesang und seine Zukunft die bestehende Arbeitsgruppe «Chance Kirchengesang», bis zum Sommer 2021 Vorschläge für konkrete Umsetzungsmassnahmen zu entwickeln. Zentral stellt sich die Frage der Nachfolge des bestehenden Katholischen Gesangbuchs. Ebenso dringlich sind Fragen der Digitalisierung und der Rechteverwaltung im Bereich des Kirchengesangs. Mit den Stichworten «migrantisch geprägte und vielsprachige Schweizer Kirche» und «Anliegen der jüngeren Generation mit eigenen Erwartungen an Gesang und Kirchenmusik» sind weitere Herausforderungen benannt.

Am 7. Mai 2021 suchte die Arbeitsgruppe erneut das Gespräch mit dem Kreis der Fachpersonen und stellte im Rahmen eines Online-Hearings ihre Überlegungen zu vier Massnahmenpaketen zur Diskussion.

Antwort auf Herausforderungen

Welche Form kann, soll, muss ein Nachfolgeprodukt des KG annehmen, um den pastoralen Zielen von Beteiligung, Qualität, Vielfalt und Ökumene gerecht werden zu können? Das ist die erste und grundlegende Frage. Es bedarf angesichts der Veränderungen der Bedeutung von Religion und der pastoralen Landschaft einer dynamischen Weiterentwicklung, die das bisher Erreichte wahrt – gemeint ist das gemeinsame Repertoire an Gesängen für die ganze Deutschschweiz und die ökumenische Verankerung –, aber auch Neues zu integrieren versteht und die Bedürfnisse der Pastoral, die von Ort zu Ort divergieren können, ernst nimmt.

Die Arbeitsgruppe stellt ein modularisiertes Konzept zur Diskussion. Die Grundlage bildet ein Basisbuch, das das Kernrepertoire von Gesängen für das Kirchenjahr sowie Gebete und Einführungen in verschiedene Gottesdienstformen enthält. Dieses Basisbuch wird begleitet von ergänzenden Modulen. Die Themenbereiche der Module erstrecken sich von Gesängen und Gebeten für die geprägten Zeiten, für Kasualien hin zu Modulen, die z. B. bei interkulturellen Settings gebraucht werden. Sowohl Basisbuch als auch Ergänzungsmodule sollen in Printform als auch in digitalen Formaten (Website, App) zugänglich sein. Deutlich wird, dass der Name «Kirchengesang- und Gebetbuch» den Produktemix nicht mehr ausreichend umschreiben kann. Ein neuer «Brand» wird definiert werden müssen. Der Arbeitstitel soll lauten: «Kirchengesang neu», also «KG_NEU».

Basisbuch mit einem Grundrepertoire

Das Basisbuch bietet ein Grundrepertoire an Gesängen in einer Vielfalt von Formen und Stilen (Strophenlieder, Psalmlieder, Rufe, Leitverse, Kanons oder spezielle liturgische Gesänge, z. B. für die Eucharistiefeier). Die Vielfalt des geschichtlichen Zeugnisses soll bei der Auswahl gewahrt werden. Darüber hinaus enthält das Basisbuch Grundinformationen zu den wichtigsten Gottesdienstformen und Sakramentenfeiern sowie Beispiele für sog. niederschwellige Gottesdienste. Auch die Grundgebete der Christin und des Christen sowie eine Auswahl an Psalmen und zeitgenössische Gebetstexte sollen in ihm enthalten sein.

Vielfältigkeit der Ergänzungsmodule

Demgegenüber zeichnen sich die Ergänzungsmodule durch eine grosse Vielfalt und Breite aus. Während die in das Basisbuch einzulegenden Module für den Weihnachts- und Osterfestkreis als gedruckte Faszikel vorliegen, ist es denkbar, dass weitere Module an den Erfordernissen der jeweiligen Gemeinde oder Gemeinschaft orientiert zusammengestellt werden können: Für eine Gemeinde, die regelmässig am Werktag Eucharistie feiert, oder für eine Gemeinschaft, die das Tagzeitengebet pflegt, oder für eine Pfarrei, die verstärkt Kinder- und Familiengottesdienste feiert.

Die Redaktion eines solchen «schlanken» KG_NEU impliziert einen komplexen, zeitlich befristeten redaktionellen Prozess (Priorisierungen, Evaluationen, Vernehmlassungen …). Daneben wird eine permanente Geschäftsstelle erforderlich sein, die im Austausch mit Verbänden und Fachleuten einen fortwährenden Prozess an schnelllebigen Modul-Publikationen unterhält.

Rechteverwaltung und Digitalisierung

Besondere Herausforderungen stellen die Pluralisierung der Gesangspraxis (Beschleunigung der «Aktualitätszyklen» neuer Gesänge, Wunsch nach lokalen Liedsammlungen, Einfluss der Migration, Bedürfnisse der Jugendkulturen, unterschiedliche Zielgruppenerwartungen usw.) sowie die Digitalisierung (Zunahme der Vielfalt an Trägermedien für Lieder und Gesänge; Zunahme technischer und administrativer Problemstellungen) dar. Im Hearing wurde gerade in der Digitalisierung eine enorme Chance, aber auch eine grosse Aufgabe gesehen. Zudem darf die Komplexität der Rechteverwaltung angesichts steigender Unübersichtlichkeit durch Pluralisierung und Digitalisierung nicht unterschätzt werden, zumal aufgrund wachsender Komplexität und steigender Leistungserwartung eher mit wachsenden Kosten bei tendenziell sinkendem Finanzierungsspielraum gerechnet werden muss.

Eine Bündelung der Kräfte wird notwendig sein, will man ein solches ambitioniertes Unternehmen stemmen. Der Aufbau einer ökumenischen Servicestelle für Kirchengesang und Kirchenmusik wird daher dringend empfohlen.

Experimente und Innovation

Ein solches Projekt «KG_NEU» ist nur in einem partizipativen und transparenten Prozess von Redaktion, kirchlichen Gremien, Pfarreien vor Ort, Jugendorganisationen, Verbänden und Ausbildungsinstituten durchführbar. Es braucht die Bereitschaft zum Experimentieren und eine hohe Sensibilität für Innovationen dort, wo sie sich als notwendig erweisen.

Aus dem Kreis der Fachpersonen gab es manche kritische Stimme zu den Massnahmenpaketen der Projektgruppe. Im Grossen und Ganzen jedoch war das Echo positiv und die Bereitschaft gross, an dem partizipativen Prozess weiterhin mitzuwirken.

Birgit Jeggle-Merz

Weitere Informationen zu Chance Kirchengesang unter www.spi-sg.ch


Birgit Jeggle-Merz

Prof. Dr. theol. Birgit Jeggle-Merz (Jg. 1960) ist Professorin für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Hochschule Chur sowie an der Universität Luzern und Mitglied des Pastoralinstituts an der Theologischen Hochschule Chur.