SKZ: Was ist kurz gesagt der Unterschied zwischen Inkulturation und Synkretismus?
Salvatore Loiero (SL): Kultur meint grundsätzlich zuerst einmal all das, was Menschen selbstgestaltend an Realitäten hervorbringen und die sie als stilbildend für ihre individuelle wie für ihre gesellschaftliche Identität festhalten. Wenn wir dann von Inkulturation sprechen, meinen wir, dass in die stilbildenden Eigenarten einer Kultur eine andere gewissermassen eintritt und die Generierung neuer stilbildender Realitäten herausfordert. So betrachtet ist Synkretismus zunächst eine pragmatische Seite von Inkulturation. Denn durch die Verbindung verschiedener stilbildender Eigenarten können Mischformen zuerst einmal eine hohe Identifikationsmöglichkeit für alle daran beteiligten Kräfte herstellen.
François-Xavier Amherdt (FXA): Eine klare Unterscheidung zwischen Inkulturation und Synkretismus ist sehr schwierig. Sie ist immer davon abhängig, ob ich eine bestimmte Kultur derart idealisiere, dass die Erhaltung ihrer «Reinform» an erster Stelle steht. Inkulturation wird dann immer nur positiv gesehen, wenn sich eine andere Kultur oder einzelne Elemente von ihr der eigenen Kultur so unterordnen, dass die angebliche Reinform erhalten bleibt. So betrachtet wird jede Form von Synkretismus negativ gesehen und abgelehnt. Wenn ich also eine Deutungshoheit über richtig und falsch für mich allein beanspruche, dann ist auch eine Unterscheidung zwischen beiden leicht. Schwieriger wird es, wenn ich diese Deutungshoheit auch der anderen Kultur zuspreche.
Angesichts des Zwischenfalls mit den Pachamama-Figuren (Rom 2019) stellt sich die Frage, wo Inkulturation aufhört und Synkretismus beginnt.
FXA: Die Antwort auf diese Frage hängt wesentlich von der eben erwähnten Deutungshoheit ab, die eine bestimmte Kultur für sich beansprucht. Wenn sie sich als Majoritätskultur mit absoluter Deutungshoheit versteht, wird sie andere Kulturen als mangelhaft abwerten. Inkulturation wird dann als Einpassung der anderen Kulturen in das eigene Ganze verstanden. Gleichzeitig wird von den anderen Kulturen erwartet, dass sie ihre bisherigen stilbildenden Eigenfaktoren aufgeben. Damit soll jeder Verdacht eines Synkretismus vermieden werden, der die eigene Kultur verwässert oder ihre «Reinform» im Innersten gefährdet.
SL: Wenn wir davon ausgehen, dass jede Kultur nichts Statisches und Fertiges, sondern immer «im Werden», immer «Interkultur» ist, dann wird auch Synkretismus zuerst nicht als Verlust einer Eigenkultur oder einer kulturellen Identität abgelehnt, sondern als Chance für neue kulturelle Stilbildungen gesehen. Was die Inszenierung der Entfernung der Pachamama-Figuren aus einer römischen Kirche betrifft: In dieser Aktion zeigt sich die Fatalität einer Deutungshoheit, die die Wirkkraft des christlichen Evangeliums wie einen Besitz versteht. Ob und wie die andere Kultur aus ihrer genuinen Leseart der christlichen Botschaft diese Figuren für sich als stilbildend ausdeutet, wird dann zweitrangig. Ideologie ist und bleibt Ideologie – das trifft auch auf selbst ernannte «Tempelreiniger» zu, die angeblich um des Evangeliums willens handeln.
Das Christentum entwickelte sich dank der Inkulturation in den hellenistischen Kulturraum. Wurde dadurch die Lehre Jesu Christi bereits im Anfang verfälscht?
SL: Auch wenn die Kirchengeschichte zeigt, dass leider bis auf den heutigen Tag die universale Heilsbotschaft des Evangeliums immer wieder ideologisch verraten wird, so bleibt doch grundsätzlich, dass die zwei Quellen der Offenbarung Gottes, damit auch der christologischen Verdichtung der Geschichte Gottes mit den Menschen, die Bibel und die Tradition sind. Die erste Referenzgrösse ist und bleibt die Bibel, die selbst in bestimmten kulturellen Kontexten entstanden ist. Sie kann aber nur ihrem universalen Anspruch gerecht werden, wenn sie sich in die Lebenswelten der Menschen hinein «entäussert», denen das Wort Gottes gelten soll – also dort hinein, wo und wie die Menschen leben (wollen).
FXA: Das Zu- und nicht das Gegeneinander von Bibel und Tradition hat schliesslich auch zu einer radikalen Wende im kirchlichen Missionsverständnis geführt. Denn bei der Verkündigung des Evangeliums geht es nicht darum, andere mit aller Macht für die eigene Sicht zu erobern, sondern im Dialog mit ihnen den eigenen Reichtum neu zu entdecken und neue Inkulturationsformen des Evangeliums zu ermöglichen, dessen Annahme freiwillig ist.
Die befreiende Botschaft Jesu Christi muss zu jeder Zeit neu in eine konkrete Situation hineingesprochen werden. Faktisch eine stetige Inkulturation?
FXA / SL: Ja.
Gemäss Joseph Ratzinger verpasste das Christentum in Europa den Schritt vom Mittelalter zur Neuzeit. Daran änderte auch das Aggiornamento des Zweiten Vatikanum nicht viel. Wie könnte eine solche Inkulturation «nachgeholt» werden?
SL: Auf dogmatischer Ebene mag das von manchen so gesehen werden. Auf pastoraler Ebene ist eigentlich das Gegenteil auszumachen: Die Individualisierung und Pluralisierung der spätmodernen Gesellschaft hat auch die pastoralen Realitäten zuerst einmal positiv verändert. So ist die Subjekt- und Kontextorientierung von Seelsorge heute nicht mehr wegdenkbar. Und in allen kirchlichen Handlungsfeldern wird stetig neu nach Inkulturationsformen gesucht, die den Menschen die Relevanz des Evangeliums für ihr Leben erschliessen bzw. offenhalten wollen.
FXA: Pastoral gesehen geht es nicht so sehr um ein «Nachholen», sondern um ein stets neues Heranwagen an Ermöglichungsformen des Glaubens. Wenn wir den Begriff des «Nachholens» aufnehmen wollen, dann so, dass wir auf pastoraler Ebene noch eine Kultur des selbstkritischen Überprüfens benötigen, ob in der Vielfalt der Seelsorgepraxis die befreiende Relevanz des Evangeliums eingeholt wird oder nicht. Das hat natürlich auch damit zu tun, ob Seelsorge dem sakramentalen Selbstverständnis der Kirche entspringt, wonach kirchliches Handeln niemals und auf keiner Ebene Selbstzweck sein darf.
Es gibt die Theorie, dass Inkulturation am einfachsten durch das gelebte Zeugnis geschehen kann. Ist das nicht zu kurz gegriffen?
SL: Angesichts der Hyperindividualisierung unserer Gesellschaftskontexte eigentlich nicht. Identifikation mit einer Sache, im Sinne von Teilhabe und Teilnahme an einem Ganzen, lässt sich heute nicht einfach kulturell bedingt verordnen. Wir sehen das ja nicht nur bei den Kirchen, sondern auch bei anderen gesellschaftsgestaltenden Institutionen: Die auszumachende und zum Teil radikale Erosion zeigt, dass Menschen für eine echte Partizipation überzeugt werden wollen und nicht einfach mehr selbstverständlich und unkritisch einfach Ja zu etwas sagen, nur weil es irgendwelche kulturelle Vorgegebenheiten von ihnen erwarten.
FXA: Die Zukunft der Kirche als Institution wird davon abhängen, ob und wie Menschen die befreiende Relevanz des Evangeliums in ihrem konkreten Leben erfahren und andere daran partizipieren lassen. Nicht von ungefähr spricht Karl Rahner vom «Frommen von morgen» als jemanden, der etwas erfahren hat. Mystik hat immer mit konkreten Erfahrungen zu tun. Die Inkulturation des Christentums in die gesellschaftlichen Gegebenheiten von heute hängt zweifelsfrei von individuellen Glaubenserfahrungen und den Kontexten ab, wo und wie diese sich ereignen und wo und wie sie weitergegeben werden.
Interview: Rosmarie Schärer