«[…] von Jesse kam die Art» wird alljährlich an Weihnachten im Lied «Es ist ein Ros entsprungen» gesungen. Wen meint der Choral? Isai, der Vater von König David, heisst einzig in der lateinischen Vulgata so: Iesse. Auch wenn sie kaum mehr viel gelesen wird, hat die Vulgata die europäische Kulturgeschichte auch weit über die Reformation hinaus geprägt.
2009 erschien mit der «Septuaginta Deutsch» die theologiegeschichtlich bedeutendste antike Bibelübersetzung endlich und erstmals vollständig auf Deutsch. 2018 nun endlich auch die Vulgata. Zwar gab es vorher schon deutsche Übersetzungen, am bedeutendsten jene von Joseph Franz von Allioli (1830–1834), allerdings geht sie nicht auf die spätantike Vulgata zurück, sondern auf eine Revision, die «Sixto-Clementina» (1592); ausserdem glich Allioli die Übersetzung öfters dem anderslautenden hebräischen Urtext an. Augustin Arndt revidierte die Übersetzung Alliolis (1899–1901); diese deutsche Vulgata-Übersetzung galt bis ins 20. Jahrhundert hinein als die massgebliche katholische deutsche Bibel. Mit der «Vulgata Deutsch»1 – initiiert durch Michael Fieger an der Theologischen Hochschule Chur, erschienen in der renommierten Sammlung Tusculum – ist nun die Vulgata lateinisch-deutsch lobenswerterweise greifbar.
Die Füsse der Kamele
Lohnt es sich, die Vulgata zu lesen, zu studieren? Ein Seitenblick: Das bekannte Gemälde «Der Garten der Lüste» (um 1490–1500) von Hieronymus Bosch hat in der Kunstgeschichte zu vielfältigen Spekulationen geführt. War der Maler in einer Sekte, vertrat er esoterische Glaubensvorstellungen? Allein: Bosch konnte noch nichts von Luthers Bibelübersetzung wissen und vom «Garten Eden», wie Luther aus dem Hebräischen übersetzt hatte (Vollbibel 1534). Seine Welt kannte hingegen den lateinischen Namen aus Gen 2,8: «paradisum voluptatis» (Vulgata Deutsch: Lustgarten). Wir blicken meist – und bibelwissenschaftlich zu Recht – vom hebräischen Bibeltext her auf die biblischen Geschichten. Dargestellt wurden diese jedoch oftmals nach der Vulgata. «Der Garten der Lüste» ist also keine apokryphe, gar sektiererische Anschauung, sondern schlicht nach der kommunen Bibel, der Vulgata, bezeichnet.2
Wer sich also intensiver kulturgeschichtlich mit der Bibel und ihrer Rezeption auseinandersetzen will, tut gut daran, auch die Vulgata zu konsultieren. Aber nicht nur: Auch theologisch erweitern die Abweichungen des Bibelübersetzers Hieronymus den Blick. Manchmal nur etwas realienkundlich: So wie Rebekka bei der Begegnung am Brunnen auch die Kamele des Knechtes Abrahams tränkte, wird ihr Bruder Laban später nicht nur die Füsse der Männer, sondern auch die der Kamele waschen (Gen 24,32). Ob Hieronymus da einschlägige Anschauung an seinem Übersetzungsstandort Bethlehem hatte? Die «Sixto-Clementina» jedenfalls hat dieses hübsche Detail rückgängig gemacht. Ebenfalls realienkundlich, dass der Dornbusch, aus dem Gott spricht, botanisch zum Brombeerstrauch wird (Ex 3,2–4; Dtn 33,16).
Täglich oder zum Leben notwendig?
Spiritueller bereits 2 Sam 22,3, wo in einer Aufzählung, was Gott dem David bedeutet, für «Festung/Zuflucht» (so im Hebräischen) lateinisch von Hieronymus «elevator meus» gewählt wird. «Mein Erheber» übersetzt die «Vulgata Deutsch». Was anderes ist damit gemeint als: «Gott, mein Aufsteller»?! Eine spätantike Formulierung, als ob sie heute geprägt worden sei. Beim Vaterunser nutzt Hieronymus die Möglichkeit, das gleiche, nicht klar verständliche Wort ἐπιούσιος (epiousios) in zwei Varianten wiederzugeben: Aus dem uns bei Lukas vertrauten «täglichen Brot» wird bei Matthäus das «zum Leben notwendige Brot». Bereits Origenes bemerkte, dass das Wort epiousios unbekannt und seine Bedeutung unklar sei, und er vermutete gar eine Wortbildung durch die Evangelisten. Hieronymus denkt an eine mögliche Herleitung: epi-ousios (über-substanzhaft) und schreibt: supersubstantialem. Die «Vulgata Deutsch» übersetzt «panem supersubstantialem» mit «zum Leben notwendiges Brot». Allioli hatte angemerkt, dass Hieronymus «supersubstantialem» als «überwesentlich» deutete und damit auf die heilige Kommunion anspielte. Das tägliche Brot deutbar als zum Leben notwendig, in der Matthäusfassung durchaus auch das Himmlische Brot mithörbar, als not-wendend. Die Vulgata erweitert also das Vaterunser um eine spirituelle Note. Gelegentlich wird die Meinung vertreten, die Bogomilen, Katharer und Albingenser hätten (wegen des «supersubstantialem») eine eigene Fassung des Vaterunsers gebetet – was wiederum nur daran liegt, dass die Vulgata ausser Blick geraten ist.
Nicht ganz vollkommen
Was gäbe es zu kritisieren? Bereits Hieronymus spricht in der Vorrede zur Psalmenübersetzung von der «hebraica veritate», der hebräischen Wahrheit, und markiert Abweichungen aus der Septuaginta mit vorgestelltem «÷» und schliessendem «:». Ähnlich weist die «Septuaginta Deutsch» die Besonderheiten mit Kursivdruck aus. Die «Vulgata Deutsch» verzichtet leider auf diese – zugegebenermassen sehr aufwendige – Dienstleistung für die Leserschaft. In der Vorrede zu seiner Übersetzung des Josuabuchs spricht Hieronymus seine Gegner an und kritisiert: Warum lesen sie «das nicht, was unter Asterisken und Obeloi entweder hinzugefügt oder weggeschnitten wurde?».3 Ähnlich ginge der dringliche Rat an das Übersetzerteam: Warum beschreibt ihr nicht, was die Vulgata anders macht; bezeichnet nicht, was umgeschrieben oder umgefügt worden ist?
Ausserdem fehlt jeglicher wissenschaftliche Apparat. Schade. Und dies gerade in einer Zeit, da führende evangelische Exegetinnen und Exegeten in Fragen der Textkritik vermehrt auch die lateinischen Textfassungen betonen (etwa Klinghardt, vgl. SKZ 07/2021 «Am Anfang war ein Evangelium»). Und Ernst Axel Knauf betont in seinem Josuakommentar (S. 34 f), dass die Endgestalt des christlichen Alten oder Ersten Testaments eigentlich erst mit der Vulgata vorliege.
Bei den Psalmen wäre es auch hilfreich gewesen, nicht nur die Psalmen aus dem Hebräischen und dem Griechischen parallel zu setzen, sondern für die bessere Vergleichbarkeit auch die einzelnen Verse. Ansonsten ist die «Vulgata Deutsch» sehr sorgfältig gedruckt; seltene Druckfehler sind in einem so umfangreichen Werk kaum zu vermeiden. So fehlt in Ecclesiastes 8,14 die nötige Verbwiederholung: «[…] und es gibt Gottlose, die sorglos sind, als hätten sie die Taten von Gerechten [getan]» oder in Ex 31,6 macht die Übersetzerin aus dem Stamm Dan (den Propheten?) Daniel. Solche Flüchtigkeitsfehler, etwa auch wenn im Lateinischen mal ein Leerschlag zwischen zwei Worten vergessen geht, können die Lesenden problemlos korrigieren. Aber ungelöst ist für mich noch immer Jes 27,1, wo der Leviathan zoologisch als «Riegel» bestimmt wird. Trotz Konsultation mittelalterlicher Bestiarien blieb mir der «kriechende Riegel» bislang unbekannt. Vielleicht weiss jemand aus der Leserschaft weiter?
Thomas Markus Meier