Vor Gott spielen

Der «Klassiker» traf damals in liturgischen Fragen den Nerv der Zeit und ermutigt heute zu einem reflektierten Weiterdenken der Grundlagen und
zu einer Suchbewegung nach Erneuerung.

Romano Guardini hätte sich ziemlich gewundert, dass 100 Jahre nach Erscheinen seines Büchleins «Vom Geist der Liturgie» (1918) Artikel erscheinen und Tagungen stattfinden. So schrieb er nach Abschluss der Korrekturen für die 13./14. Auflage von 1934 in einem Brief: «Ich habe das Manuskript mit einigem Widerstreben aus der Hand gegeben. Eigentlich geht es heute nicht mehr an, diese Dinge in dieser Weise zu behandeln.»1 Er verband es mit der bereits vergangenen Frühphase der Liturgischen Bewegung. So wäre ihm wohl auch unbehaglich geworden bei Bezeichnungen wie «Klassiker» oder «Kultbuch». Aber er erlebte, wie ihn das Buch als 33-Jährigen schlagartig berühmt machte. Die 3000 Exemplare der ersten Auflage vom Mai 1918 waren nach nicht einmal einem halben Jahr verkauft, sodass der Verlag im selben Jahr nochmals 3000 Stück druckte. «Vom Geist der Liturgie» wurde bis 2018 in der Fassung von 1934 immer wieder nachgedruckt. Wie kam es zu diesem Buch, worum geht es und welche Impulse, inklusive Fragen, vermittelt es über alles Zeitbedingte hinaus noch heute?

Die Entstehung – was ist Liturgie?

Als Student entdeckte Guardini 1906/07 zusammen mit einem Freund in der Benediktinerabtei Beuron eine neue Seite der Liturgie. Er beschäftigte sich seinerzeit mit der deutschen Mystik, formulierte dazu im Rückblick aber auch: «Doch habe ich immer gedacht, es müsse noch eine andere Mystik geben, in welcher die Innigkeit des Geheimnisses mit der Grösse der objektiven Gestalten verbunden sei. In Beuron und seiner Liturgie habe ich sie gefunden.» Die beiden Freunde beschlossen, von zwei Seiten her darzu- stellen, was Kirche sei. Guardini wollte es «von der Liturgie her, als Quelle und Gestalt kontemplativen Lebens»2 angehen, woraus unter anderem «Vom Geist der Liturgie» hervorging.

Zur kontemplativen Dimension kam eine weitere: 1911 schrieb er einem Freund, dass er die theo- retischen Grundlagen der Liturgie durchdenke, eine damals neue und bis heute aufgegebene Fragestellung. Fünf Jahre später beschäftigte ihn die Liturgie als «Kulturphänomen» und er dachte an eine Broschüre über «die religiöse Geistes- haltung der Liturgie»3. Das charakterisiert gut, was in den Kapiteln über den Geist der Liturgie zu lesen sein wird. Geschrieben waren sie indes noch nicht, aber der Kairos sollte bald kommen, wie jüngst Stefan Langenbahn durch akribische Forschungen zeigen konnte.

Wir sind im Ersten Weltkrieg, der Kaplan Guardini ist damals im Mainzer Lazarett als Militärkrankenwärter tätig. Um die Vorliebe seines Vorgesetzten für gregorianischen Choral wissend, fährt er mit diesem am 31. Mai 1917 zu einer Jungfrauenweihe – und das ist salopp gesagt «grosses Kino» – in der Benediktinerinnenabtei St. Hildegard bei Eibingen. Dieser fragte ihn danach, was Liturgie sei. Mit dem zentralen Kapitel über Liturgie als Spiel beginnend, schreibt Guardini seine Antwort in kürzester Zeit nieder. Bereits Anfang August sendet er seinem Freund P. Cunibert Mohlberg OSB (1878–1963) ein Skript von etwa 60 Seiten.4 Die Grundlage ist geschaffen, doch die Monate bis zur Veröffentlichung im Mai 1918 verlaufen turbulent. Dann aber spricht das Buch hinein in eine alles andere als ideale Situation, wie eine Erinnerung Guardinis dokumentiert: Als Kaplan musste er vor ausgesetztem Allerheiligsten die Messe feiern, während die Gläubigen den Rosenkranz beteten.

Welche Geisteshaltung prägt die Liturgie?

Guardinis Antworten sprechen zuerst von den Schwierigkeiten des Zugangs zur Liturgie – eine Perspektive, die Lesende ernst nimmt und heute vielleicht noch wichtiger ist. Ich kann das nur sehr knapp andeuten.

Das erste Kapitel über «Liturgisches Leben» kennzeichnet die Liturgie als geistliche Lebensordnung einer Gemeinschaft, in der die Fülle des Glaubens ausgebreitet werden soll, und zwar so, dass sie weder kalt-verstandesorientiert noch gefühlsmässig überladen ist. Sie muss in Beziehung zum wirklichen Leben stehen. Das zweite Kapitel «Liturgische Gemeinschaft» stellt das Verhältnis von Kirche und Persönlichkeit ins Zentrum. Das gemeinschaftliche Beten fordert von jenen, die sich stark auf die eigene Persönlichkeit fokussieren, ein gewisses Zurücknehmen eigener Befindlichkeiten – wie auch von jenen, die stark gemeinschaftsbetont fühlen. Mit dem dritten Kapitel «Liturgischer Stil» wird deutlich, dass diesen Geisteshaltungen ein Wesenszug der Liturgie entspricht: Wenn Stil im Allgemeinen etwas ist, bei dem in wahrhaftigem Selbstausdruck eine allgemeine Bedeutung in geformter Weise sichtbar wird, dann ist liturgischer Stil sehr verkürzt das, was das geistliche Leben der Einzelnen mit dem die Zeit transzendierenden Leben Jesu in seiner Bedeutung für alle verbindet. «Liturgische Symbolik» (Kapitel 4) fragt stärker (kultur-)anthropologisch: Ein Symbol verleiht etwas Innerlichem, Geistigem durch leibhafte Gestalt Ausdruck. So kann es als Eindruck dieses Geistige, diese Erkenntnis stärker vermitteln als das Wort – auch in der Liturgie. Es folgt das Kapitel über «Liturgie als Spiel» (s.u.), dann das später hinzugekommene über den «Ernst der Liturgie» als Absicherung gegen Missverständnisse, schliesslich das für eine Interpretation Schwierigste über den «Primat des Logos über das Ethos».

«Liturgie als Spiel»

Guardini betrachtete dieses Kapitel als das wichtigste. Tatsächlich entfaltete es die stärkste Wirkung, die Rezeption dauert bis heute an, auch im Sinne eines reflektierten Weiterdenkens. Denn selbstverständlich ist die Kategorie Spiel im Kontext der Liturgie nicht. Gemeint ist damals nicht Ästhetizismus und heute nicht das Spielen im Gottesdienst, vielmehr kommt hier nun die kontemplative Dimension der Liturgie zum Vorschein.

Der Zugang ist philosophisch. Guardini unterscheidet zwei Handlungsformen: das zweckhafte Handeln, das um eines Zieles willen erfolgt. Das ist (lebens-)notwendig, aber es braucht einen Gegenpol: Handeln, das um seiner selbst willen erfolgt, zweckfrei und gerade darin zutiefst sinnvoll. Innerhalb des kirchlichen Handelns steht die Liturgie auf der Seite des zweckfreien Tuns: «Der Sinn der Liturgie ist der, dass die Seele vor Gott sei, sich vor ihm ausströme, dass sie in seinem Leben, in der heiligen Welt göttlicher Wirklichkeiten, Wahrheiten, Geheimnisse und Zeichen lebe, und zwar ihr wahres, eigentliches, wirkliches Leben habe.»5 Im Sein vor Gott, über sich selbst hinausgehoben, liegt ein kontemplativer Zug. Diese Ekstase führt zum eigentlichen und wirklichen Leben, also einer Existenz jenseits aller Entfremdung von sich selbst. «Vor Gott ein Spiel zu treiben, ein Werk der Kunst – nicht zu schaffen, sondern zu sein, das ist das innerste Wesen der Liturgie.»6 Im Spiel einfachhin zu sein, hingegeben, nichts leisten müssen, das ist eine Freiheitserfahrung – im Spiel der Liturgie noch einmal ganz anders als in jedem anderen Spiel.

Impulse für heute

Guardinis «Klassiker» enthält Impulse für die Gestaltung von Liturgie in der gegenwärtigen Ich-Gesellschaft:

  1. Der Mut zur Erschliessung von Liturgie angesichts einer alles andere als idealen Liturgie kann ein Impuls sein, an der Erschlies- sung der Liturgie auf vielen Ebenen weiterzuarbeiten.
  2. Guardini sah die liturgische Erneuerung im Zusammenhang mit kirchlicher Erneuerung. Welche Bedeutung haben Gottesdienste im Kontext kirchlicher Erneuerungsprozesse? Ich lese Guardinis Schrift als Ermutigung, sich auf eine Suchbewegung einzulassen.
  3. Die (Geistes-)Haltungen der Liturgie gegenüber fordern die Mitfeiernden. Das ist nicht falsch, aber unbequem, insbesondere dann, wenn sich Forderungen an die Liturgie als Dienstleistung richten. Sie soll die Bedürfnisse des Ichs erfüllen. Für Guardini war das der legitime Ort von Andachten. Welche Art von Gottesdienst könnte das heute sein?
  4. Die polar gebauten Haltungen von Mitfeiernden lassen sich auch heute erkennen, z.B. wenn die Liturgie «mir persönlich etwas bringen soll» und gleichzeitig eine Gemeinschaftserfahrung gesucht wird. Oder wenn Liturgie zugleich sinnlich sein soll, vom Wort der Predigt aber durchaus viel erwartet wird. Diese Spannung kann geistlich produktiv sein.
  5. Das eigentliche Leben, zu sich selbst befreit in gesammelter Hingabe, kann heutigen Suchbewegungen entsprechen. Achtsamkeitsübungen sind ein Zeichen dafür. Wie kann es gelingen, diese mit dem liturgischen Spielen vor Gott, also der kontemplativen Seite der Liturgie, in eine erfüllende Beziehung zu setzen?


Gunda Brüske

 

1 Brief vom 23.4.1934 an Abt Ildefons Herwegen OSB, in: Vom Geist der Liturgie. 100 Jahre Romano Guardinis «Kultbuch» der Liturgischen Bewegung. Begleitpublikation zur Ausstellung in Maria Laach u.a. Hg., mit einer Beschreibung der Exponate von Stefan K. Langenbahn. Köln 2017, 80.

2 Guardini, R., Berichte über mein Leben. Autobiographische Aufzeichnungen. Aus dem Nachlass hg. von Franz Henrich. Düsseldorf 31988, 88.

3 Brief vom 6.9.1916 an Josef Weiger, Ausstellungskatalog 239.

4 Mohlberg ist für die Schweiz nicht ohne Bedeutung: Er erstellte den Handschriftenkatalog der Zentralbibliothek Zürich und wurde später Ehrendoktor der Universität Zürich.

5 Guardini, R., Vom Geist der Liturgie. Freiburg i. Br. 1983, 97.

6 Ebd., 102.

 


Gunda Brüske

Dr. theol. Gunda Brüske (Jg. 1964) ist Leiterin des liturgischen Instituts der deutschsprachigen Schweiz. 1998 promovierte sie mit einer Arbeit über Romano Guardini. Seit 2004 arbeitet sie im Liturgischen Institut. Ihre Schwerpunkte sind u. a. liturgische Aus- und Weiterbildung, Liturgie und Kirchenerneuerung, die Website www.liturgie.ch und die Wort-Gottes-Feier.