Viele reformierte Kirchgemeinden und Kantonalkirchen in der Schweiz befinden sich zurzeit in Veränderungsprozessen: Generationenkirche oder Fresh Expressions in den Gemeinden, KirchgemeindePlus in Zürich, Vision 21 in Bern oder Visitation im Baselbiet, so heissen diese verschiedenen Reformprogramme. Zudem ist der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) seit zehn Jahren damit beschäftigt, sich eine neue Verfassung zu geben. All diese Anstrengungen versuchen, Antworten zu finden auf die inhaltlichen Herausforderungen und finanziellen Schwierigkeiten, wie sie in den reformierten Kirchen immer deutlicher zutage treten.
Als Ratsmitglied des Kirchenbundes werde ich hier ausschliesslich zur neuen Verfassung des Kirchenbundes schreiben und darlegen, welche Art und Weise von Kirchenentwicklung mit dieser neuen Verfassung verfolgt wird. Am 19. Juni wurde die zweite Lesung der Verfassung durch die Abgeordnetenversammlung beendet. Am 18. Dezember wird die Schlussabstimmung stattfinden. Anschliessend soll die neue Verfassung in Kraft treten.
Vom Kirchenbund zur einen Kirche
Die neue Verfassung beinhaltet folgende Neuerungen: Aus dem Kirchenbund soll eine Kirche mit dem Namen Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) werden. Aus einem Verband von verschiedenen Kantonalkirchen, der vor allem die Aufgabe hat, die Kirchen bei den Bundesbehörden zu vertreten und internationale Verpflichtungen wahrzunehmen, wird eine Kirche entstehen. Diese Kirche soll sich durch das auszeichnen, was nach reformiertem Verständnis eine Kirche ausmacht: die Verkündigung des Evangeliums und das Spenden der Sakramente. Zudem übernimmt die neue Kirche auch innerkirchliche Aufgaben. Dazu zählen der Zusammenhalt unter den Mitgliedskirchen, Anregungen zum kirchlichen Leben oder theologische und ethische Grundlagenarbeit. Die EKS erhält ausserdem eine dreigliedrige Kirchenleitung durch Synode, Rat und Präsidium, und sie wird eine Kirche auf drei Ebenen sein, d. h. der kommunalen, kantonalen und nationalen Ebene. Dieses neue starke Miteinander soll des Weiteren durch na- tionale Handlungsfelder zum Ausdruck kommen, in denen die wichtigen Themen des kirchlichen Lebens gemeinsam bearbeitet werden.
Die neue Verfassung beinhaltet jedoch nicht nur Veränderungen an den kirchlichen Strukturen. Die neue Verfassung enthält wichtige theologische Inhalte, die das Leben der neuen Kirche prägen sollen. Von diesen hebe ich zwei Elemente hervor:
1. Die altkirchlichen Bekenntnisse
Im Jahr 1871 wurde für die reformierten Kirchen der Schweiz die Bekenntnisfreiheit beschlossen. Faktisch führte dieser Entscheid zu einer Bekenntnislosigkeit. Folge davon ist, dass einzelne reformierte Pfarrerinnen und Pfarrer sagen, dass sie nicht an Gott glauben, dass Jesus einzig eine historische Person war; oder in einer kantonalen Kirchenverfassung ist nicht mehr vom Heiligen Geist, sondern nur noch von einer Kraft zu lesen – alles theologische Aussagen, die sich mit den Inhalten der altkirchlichen Bekenntnisse nicht decken.
In Artikel 3 der neuen Verfassung werden die Bekenntnisse wieder aufgenommen: «Die EKS teilt mit der ganzen Christenheit den Glauben, wie er in den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen formuliert ist.» Für die Reformatoren waren die altkirchlichen Bekenntnisse und insbesondere das Apostolikum eine Selbstverständlichkeit. Das Apostolikum war fester Bestandteil der Liturgie und Grundlage der vielen reformierten Katechismen. Die neue Verfassung knüpft damit an die eigene Tradition an und sie ordnet sich in einem zentralen Punkt in die Ökumene ein.
Vielen Gläubigen in unseren Kirchgemeinden sind zentrale Glaubensinhalte unbekannt. In dieser theologischen Orientierungslosigkeit kann den Bekenntnissen eine wichtige Funktion zukommen. Sie können Referenz sein für die eigene Auseinandersetzung mit den Grundaussagen des christlichen Glaubens. Sich auf die Bekenntnisse zu beziehen, bedeutet nicht, blind zu glauben und den eigenen Verstand auszuschalten. Aber es macht deutlich, dass wir den christlichen Glauben nicht selber erfinden können. Die Bezugnahme auf die Bekenntnisse korrigiert deshalb den Slogan, mit dem die reformierten Kirchen im Jahr 2001 eine grosse Werbekampagne betrieben: «Selber denken – die Reformierten». Auch reformierter Glaube soll sich in die 2000-jährige Tradition christlicher Lehre einordnen. Selbstverständlich ist diese Lehre immer von Neuem so zur Sprache zu bringen, dass sie für die Gläubigen von heute relevant ist. So formuliert die neue Verfassung: «Die EKS bringt den christlichen Glauben in zeitgemässer Weise zum Ausdruck.»
2. Der Auftrag der Kirche
Der erste inhaltliche Paragraf der neuen Verfassung trägt den Titel «Der Auftrag», auf Französisch «La mission». Als Auftrag wird Folgendes definiert: «Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz verkündigt das Evangelium von Jesus Christus in Wort und Tat.» Dieser Grundauftrag der Kirche begegnet zudem an einem zweiten wichtigen Ort in der Verfassung. Beim Paragrafen 16 wird unter dem Stichwort der dreigliedrigen Kirchenleitung festgehalten: «Die Synode, der Rat und die Präsidentin oder der Präsident der EKS sind in all ihrem Tun dem Auftrag der EKS verpflichtet» (§ 16,2).
Der Auftrag der Evangeliumsverkündigung nimmt in der künftigen EKS eine eminent grosse Bedeutung ein: Die Arbeit in den verschiedenen Gremien der EKS soll an diesem Auftrag ausgerichtet sein. Dieser Auftrag ist das Kriterium dafür, was die Kirche tut, wie sie es tut und wofür sie ihr Geld ausgibt. In diesem Sinn soll unsere Kirche eine «mission-shaped church» sein (Kirche gewinnt neue Gestalt durch Mission), wie die Anglikaner es formulieren.
Klar ist: Neu ist die Orientierung an diesem Auftrag nicht. In den Verfassungen vieler Kantonalkirchen ist dieser Auftrag genauso enthalten und kirchliche Mitarbeitende landauf und landab führen ihre Arbeit in diesem Verständnis aus. Mit der Verfassung möchten wir all dieses Bestehende unterstützen und bekräftigen.
Wenn sich die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz am Verkündigungsauftrag orientiert, ist es entscheidend, mit welcher Haltung sie diesen Auftrag wahrnimmt. Dabei kann sich die Kirche an der Art und Weise orientieren, wie Jesus das Evangelium verkündete. Jesus selbst brachte sein Evangelium den Menschen so nahe, dass sie sich ihm in aller Freiheit anschliessen konnten oder auch nicht. Menschen waren ergriffen von seinen Worten und Taten, sie erkannten in seinem Reden und Handeln ewige Wahrheit – und liessen alles fallen und liegen und folgten ihm nach. Jesus hatte für sie eine solche Anziehungskraft, dass sie sich ihm als Jünger anschlossen. So schreiben wir auch in der Verfassung: «Die EKS legt Zeugnis ab und lädt ein zur Nachfolge» (§ 2,4). Diese einladende Haltung ist grundlegend.
Die Orientierung am Auftrag der Evangeliumsverkündigung ist zentral für eine Kirche. Sie kann die Kirche davor bewahren, primär mit sich selbst beschäftigt zu sein. Selbstverständlich brauchen Kirchen gesunde Finanzen, adäquate Strukturen und gute gesetzliche Regelungen. Aber in der Regelung dieser Bereiche erschöpft sich nicht der Inhalt der Kirche. Die Orientierung an der Evangeliumsverkündigung gibt der Kirche eine Ausrichtung nach aussen in die Welt.
Das macht den Unterschied
Die Orientierung am Auftrag zur Verkündigung kann uns auch davon befreien, die Kirche retten zu wollen. Wir haben einen anderen Auftrag. Nicht die Kirche soll gerettet werden, sondern Menschen sollen durch das Evangelium in Wort und Tat gerettet werden. Sie mögen erfahren, wie die Worte der Hoffnung oder der Vergebung von Verzweiflung und Schuld befreien. Sie mögen erfahren, dass sie die Hilfe erhalten, die sie benötigen. Die Kirche soll nicht um sich selbst kreisen, sondern eine Ausstrahlung in die Welt haben.
Das Evangelium ist keine abstrakte Lehre. Jesus hat die Menschen in ihrer ganz spezifischen Situation erfahren lassen, wie sich das Leben anfühlt, wenn es geprägt ist von seinem Geist. Das Evangelium ist eine Botschaft, die in die Welt hineinbuchstabiert werden will. Es macht einen Unterschied, ob jemand das Radio lauter dreht oder die Polizei ruft, wenn der Ehestreit in der oberen Wohnung zu eskalieren droht. Es macht einen Unterschied, ob Erwachsene bei Cybermobbing intervenieren oder sich niemand um den betroffenen Jugendlichen kümmert und dieser in den Suizid getrieben wird. Es macht einen Unterschied, ob man einen psychisch kranken Mitarbeiter möglichst rasch loswerden will oder alles unternimmt, damit er im Arbeitsprozess bleiben kann. Mit der neuen Verfassung sollen die Mitglieder der reformierten Kirche darin bestärkt werden, diesen Unterschied zu machen.
Sabine Brändlin