Widerhall einer Präsenz

Die Heimsuchungsgruppe aus dem ehemaligen Dominikanerinnenkloster St. Katharinenthal bei Diessenhofen ist eine der schönsten des Mittelalters. Was zeigt sie? Fabian Wolf bietet eine Betrachtung. 

Detail mit Handhaltung und Spruchband. (Bild: The Metropolitan Museum of Art, New York)

 

Im Metropolitan Museum in New York wird eine der schönsten Heimsuchungsgruppen des Mittelalters aufbewahrt, die einem helfen kann, die Begegnung zwischen Maria und Elisabet tiefer zu verstehen (Abb. 1). In welchem Kontext war sie entstanden? Die weitgehend originalgefassten, 59 cm grossen Figuren aus Nussbaumholz wurden um 1320 geschaffen und stammen aus dem Dominikanerinnenkloster St. Katharinenthal bei Diessenhofen. Dieser Konvent war aus einer Gruppe frommer Frauen aus Winterthur hervorgegangen, die sich zunächst 1242 in Diessenhofen niedergelassen hatte, dann 1245 in den Orden inkorporiert wurde und ihre Klosteranlage am Rheinufer bauen liess. Die Weihe des Kirchenchores zu Ehren von Maria und Johannes dem Evangelisten wurde 1305 vorgenommen. Wenige Jahre später wurde die Heimsuchungsgruppe für die neue Kirche in Auftrag gegeben. Die dort lebenden Nonnen entstammen hauptsächlich dem Adel, der Ministerialität und den städtischen Führungsschichten aus Winterthur und der Umgebung, weshalb das Kloster dank der gut begüterten Herkunftsfamilien und vieler Gönner über entsprechende finanzielle Mittel und ein eigenes Skriptorium verfügte. Zur überlieferten Ausstattung aus dem frühen 14. Jahrhundert zählen ein bedeutendes Graduale, Statuen von Johannes dem Täufer und dem heiligen Dominikus, eine wunderschöne Christus-Johannes-Gruppe sowie besagte Figurenstatuetten der Heimsuchung.

Dargestellt ist die Begegnung zwischen Maria und ihrer Verwandten Elisabet, von der Lukas 1,39–56 berichtet. Nach der Verkündigung war die schwangere Maria in das Bergland von Judäa aufgebrochen, um Elisabet zu besuchen (daher «Heimsuchung»). Elisabet war trotz ihres fortgeschrittenen Alters ebenfalls schwanger, was Maria veranlasste, die beschwerliche Reise auf sich nehmen, um ihr zu helfen. In der frühen Schriftauslegung wird dies stets als grosses Zeichen der Bescheidenheit und Opferbereitschaft der Muttergottes beschrieben. Als Maria nun ins Haus des Zacharias eintrat und Elisabet grüsste, wurde ihr die bedeutungsvolle Ankündigung des Engels in Nazareth auf überraschende Weise bestätigt: Elisabet spürte beim Vernehmen der Grussworte die Regung des Kindes in ihrem Leib, wurde daraufhin vom Heiligen Geist erfüllt und erkannte Maria als Mutter des Herrn. Sie grüsste sie deshalb mit den Worten: «Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?» Maria antwortete mit ihrem berühmten Loblied, dem Magnificat, während der Gruss Elisabets in den Wortlaut des Ave Maria und so in den Angelus und den Rosenkranz Eingang fand.

Vom Sichtbaren zum Unsichtbaren

Die tiefe Verbundenheit der beiden während dieser besonderen Begegnung wird in dem Bildwerk unter anderem in den einfühlsamen Gesten der Frauen ausgedrückt. Maria, auf der linken Seite, hat ihre linke Hand sanft auf Elisabets Schulter gelegt, während ihre Rechte in der Hand Elisabets ruht (Abb. 2). Diese hat ihre Linke zur Brust erhoben und hält ein Spruchband, auf dem in gotischer Unzialschrift die Worte aus Lukas 1,43 zu lesen sind: «VNDE . hOC . MICHI [MIHI] . VT VENIAT . MAT[ER DOMINI]» (dt. «Woher kommt mir das, dass die Mutter des Herrn zu mir kommt?»). Der Satz betont die Demut Elisabets und bestimmt zugleich den dargestellten Augenblick näher. Gemeint ist der Moment, in dem sie, vom Heiligen Geist erfüllt, ihre Verwandte als «Mutter des Herrn» anspricht.

Es ist also die Menschwerdung Gottes, die in diesem Augenblick das Bewusstsein der beiden ganz erfüllt. Betrachten wir unter diesem Aspekt das Kunstwerk etwas genauer. Mit den künstlerischen Mitteln der Zeit wird man in das innere Geheimnis des äusseren Geschehens eingeführt. Der Blick wandert über die reich verzierten, höfischen Gewänder der Frauen. Sie sind als Zeichen des himmlischen Abglanzes mit Blattgold versehen. Ihre Schwangerschaft wird durch zwei Bergkristalle auf der Leibesmitte symbolisiert. Diese wurden allerdings erst 1907 angebracht. Ursprünglich hatten sich dort Sichtfenster befunden, durch die die Kinder im Mutterleib zu sehen waren. Schauöffnung und Goldglanz unterstreichen das Übernatürliche dieser Begegnung, während das zärtliche Miteinander und die Blicke der Frauen das Menschliche hervorheben. Beides verdichtet sich in diesem Andachtsbild, das zur meditativen Betrachtung des Wunders der Menschwerdung einlädt.

Wir wissen aus den Schwesternbüchern von St. Katharinenthal, dass die Klosterfrauen vor Bildwerken dieser Art beteten, d. h. sie sowohl während des gemeinschaftlichen Stundengebets betrachteten als auch bei privaten Frömmigkeitsübungen als «Gegenüber» nutzten. Bilder erleichterten das Miterleben und Miterleiden, das am Ende bis zur Imitatio der heiligen Person führen konnte. Leider gibt es keine Berichte über die mystische Versenkung in den Bildinhalt dieser Visitatio-Gruppe, und wir wissen auch nicht, ob sie im Klausurbereich der Nonnen oder in der «äusseren» Kirche, etwa im Langhaus, aufgestellt war. Das kleine Format lässt darauf schliessen, dass sie keinen festen Standplatz hatte. Was wir aufgrund der Gestaltung aber annehmen können, ist, dass es darum ging, «per visibilia ad invisibilia», die Heilswahrheiten zu meditieren, die in dieser Begegnung zwischen Maria und Elisabet aufleuchten: die Freude über die Gegenwart des Herrn, den Drang, diese Freude zu teilen, und die Ergriffenheit, dass ihnen diese Begegnung – miteinander und mit dem Herrn – zuteil wird.

Christusbegegnung

Deshalb geht der Blick buchstäblich noch tiefer: Die ursprünglichen Schauöffnungen sind ein beredtes Beispiel, wie das Mittelalter alles auf Gott hin durchsichtig machen wollte. Wie sahen Jesus und Johannes im Leib ihrer Mütter aus? Vergleichbare Bilder der Zeit geben uns eine gute Vorstellung. In der Regel wird das Jesuskind sitzend oder stehend, meist mit Segensgestus dargestellt, während Johannes fast immer mit zum Gebet zusammengelegten Händen gezeigt ist, häufig kniend. Der spätere Prediger in der Wüste und Täufer Christi ist also auserwählt bereits vor seiner Geburt, als erster Jesus als Gottessohn anzuerkennen: Im biblischen Bericht gibt er seiner Huldigung durch die Bewegung im Mutterleib Ausdruck, in der Bildkunst wird diese Anerkennung des Erlösers in der Gebetshaltung verdeutlicht. Um es nochmals zu betonen: Es handelt sich bei der Heimsuchung nicht nur um eine Begegnung der beiden schwangeren Frauen, sondern auch um die erste Begegnung zwischen Johannes und Elisabet mit Jesus. So kann diese kleine Heimsuchungsgruppe nicht nur zum Sinnbild für die Inkarnation, sondern auch für die Christusbegegnung schlechthin werden.

Die Christusbegegnung spiegelt sich, wie oben beschrieben, gewissermassen im Bewusstsein und im Antlitz der beiden Frauen. Elisabeth erkennt durch den Gruss Marias und das Hüpfen des Johannes das Erwähltsein der jüngeren Verwandten von Gott und betont das nachdrücklich mit ihren preisenden Worten, deren entscheidender Satz auf ihrem Schriftband zu lesen ist. So rückt auch Elisabet – neben Johannes – in die Reihe der Propheten und Sibyllen, die auf die Geburt Christi hingewiesen hatten. Von den wenigen Stellen im Neuen Testament, an denen Maria mit Namen genannt wird, ist die Beschreibung der Heimsuchung eine der menschlich anrührendsten und zugleich bedeutsamsten Begebenheiten. Denn die menschliche Seite, die Begegnung der zwei auserwählten Frauen und ihrer ungeborenen Kinder, hat über die gegenseitige weibliche Bestätigung der Verkündigung des Engels hinaus vor allem die schon angesprochene heilsgeschichtliche Bedeutung: Nach Maria und Johannes wird Elisabet die beginnende Erlösung offenbart, die durch ihr Erkennen für alle erkennbar wird. Ambrosius spricht in diesem Zusammenhang von den Anfängen des menschlichen Heils durch die beiden Frauen. Und theologisch betrachtet, setzt sich dieses Heil in der Geschichte fort, denn in jeder Begegnung zweier Menschen kann Christus präsent werden. Jede Begegnung kann zu einem Widerhall Seiner Präsenz werden.

Fabian Wolf


Fabian Wolf

Dr. Fabian Wolf (Jg. 1981) studierte Kunstgeschichte, katholische Theologie und Kognitionswissenschaft in Freiburg i. Br. und Rom und promovierte an der Goethe-Universität Frankfurt. Nach seiner Ausbildung zum Kurator am Frankfurter Städel Museum ist er seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Staatl. Schlösser und Gärten Hessen.