Vereinfachend gesprochen können wir zwei verschiedene Zeitformen unterscheiden: eine mythisch-zyklische und eine geschichtlich-lineare. Das ihnen entsprechende Piktogramm ist einerseits der Kreis, andererseits der Pfeil. Man wird dem biblischen Zeitverständnis nur gerecht, wenn man beide Zeitformen – bildlich gesprochen: den Kreis und den Pfeil – miteinander verbindet; dann bekommt man eine Spirale. Sie scheint ein angemessenes Bild für das biblische Zeitverständnis zu sein. Ihre prägende Gestalt gewinnt sie aus dem Zusammenspiel von Wiederholung, Erneuerung, Erinnerung, Erwartung und Erfüllung.
Wiederholung und Erneuerung
Im Gegensatz zu einem in der Moderne verbreiteten Missverständnis ist das mythisch-zyklische Zeitverständnis nicht Ausdruck von Sinnlosigkeit, sondern Ausdruck von Sinn und Ordnung. Sein zentrales Merkmal ist die Wiederholung. Die Wiederholung ist zugleich wesentliches Element kultischer Handlungen. Im Kult werden Handlungen in einer feststehenden Abfolge wiederholt. Der Kult versteht sich als Erneuerung der Schöpfung, indem er ihre ursprüngliche Ordnung möglichst rein wiederholt und so den chaotischen Mächten Einhalt gebietet. Wiederholung und Erneuerung sind die wesentlichen Sinngehalte eines mythisch-zyklischen Zeitverständnisses.
In Israel wie in der Antike waren soziale Zeit und Naturzeit stärker aufeinander bezogen, als dies in neuzeitlich geprägten Kulturen der Fall ist. Zeitgefühl und Zeitmessung orientierten sich an periodischen Naturerscheinungen wie dem Wechsel von Tag und Nacht (Ps 104,20–23), dem Lauf der Gestirne (Gen 1,14–16) und dem Wechsel der Jahreszeiten: «Du machst den Mond zum Mass für die Zeiten, die Sonne weiss, wann sie untergeht» (Ps 104,19). «Niemals, solange die Erde besteht, werden aufhören Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht» (Gen 8,22). Das zyklische Zeitverständnis ist zwar dem Kosmos abgeschaut, dennoch ist es in einer Kultur nicht einfach von Natur aus da. Es muss erzeugt und aufrechterhalten werden, wenn es in das Verständnis der Zeit eingehen soll.
Erinnerung
Zu einer ausschliesslich mythisch-zyklischen Zeitvorstellung wie etwa im Alten Ägypten kam es in Israel jedoch nicht. Soziale und klimatische Verhältnisse mögen eine Rolle gespielt haben. Die Naturverhältnisse waren in Israel unberechenbarer als in Ägypten. Das Nichtvorhersehbare und Aussergewöhnliche gewinnt so an Bedeutung. Das geschichtlich-lineare Zeitverständnis wurde in Israel vor allem prägend für das religiöse Symbolsystem. Grundgelegt wurde es durch eine Sinngebung der Geschichte. Diese erfolgte dadurch, dass das Aussergewöhnliche nicht eliminiert, sondern im Bewusstsein der Gesellschaft thematisiert und erinnert wurde. Einem einmaligen und oft aussergewöhnlichen Geschehen wird eine über den Tag hinausreichende Bedeutung zuerkannt, genauer: In einem historisch einmaligen Geschehen wird ein Sinn vernommen, der in je gegenwärtigen Erinnerungen tiefer verstanden wird und der sich erst in der Zukunft in seiner Vollgestalt erschliessen sollte. Derartige Ereignisse werden in der biblischen Überlieferung mit einem Handeln Gottes in Verbindung gebracht. Das Alte Testament rechnet unter anderem dazu den Auszug aus Ägypten und die damit verbundene Erwählung Israels (Ex 13,3), die Erwählung der Daviddynastie und die ihr gegebene Verheissung «ewiger Dauer» (2 Sam 7; Ps 89), die Erwählung des Zion und seine «Erhebung» zum Ort der Völkerwallfahrt (Jes 2,1–5; Mi 4,1–5). Wie auch immer die Frage nach der Historizität des Exodus zu beantworten sein wird, unbestritten dürfte sein, dass sich Israel in der Bestimmung seiner Identität auf ein (erzähltes) Ereignis der Vergangenheit bezieht: Israel versteht sich als das Volk, das Gott aus der Knechtschaft Ägyptens befreit hat (Ex 20,2). An die Seite der mit dem zyklischen Zeitverständnis verbundenen Erneuerung tritt die das lineare Zeitverständnis konstituierende Erinnerung.
Erwartung
Vor allem in der prophetischen Tradition wird – häufig in der Wendung «es werden Tage kommen» bzw. «in künftigen Tagen» – eine in der Zukunft liegende Zeit angekündigt. Es kann eine Zeit des Gerichts und der Vernichtung, aber auch (und zugleich) eine Zeit der Wiederherstellung und Vollendung der Schöpfung und der Geschichte sein. Sie zielt darauf, Israel und die Völker in jene Gemeinschaft mit Gott zu führen, die sich in dem, was Israel «in den Tagen der Vorzeit» (Jes 63,9) vernommen und im Exodus anfänglich selbst erfahren hat, als ein alle Völker betreffendes Geschehen (vgl. Gen 12,1–3) bereits angekündigt hat (vgl. Jes 25,6–8).
Ein Zeitverständnis, das den zyklischen und linearen Aspekt miteinander verbindet, liegt der biblischen Schöpfungserzählung zugrunde. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich das «im Anfang» von Gen 1,1 nicht nur auf den Anfang des Schöpferhandelns Gottes, sondern auf den Anfang des göttlichen Handelns überhaupt bezieht. Der siebte Tag der Woche ist wohl die eindrücklichste Institution eines zyklischen Zeitverständnisses. Zugleich fällt auf, dass dieser Tag in Gen 2,1–3 einen Morgen, jedoch keinen Abend hat. So wie das zyklische Zeitverständnis in das lineare integriert wird, so wird hier die zyklische Zeit auf eine Bewegung hin geöffnet, die in Gott ihre Vollendung findet. Himmel und Erde werden vergehen, Gott aber bleibt, seine «Jahre enden nie» (Ps 102,26–28).
Erfüllung
Das Neue Testament erzählt, wie mit dem Kommen Jesu die Zeit zu ihrer Erfüllung gelangt ist: «Die Zeit (kairos) ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!» (Mk 1,15). Jesus ist die Gegenwart Gottes auf Erden. Mit ihm beginnt die Wiederherstellung und Vollendung der Schöpfung. Die Herrschaft Gottes, die an seine Person gebunden ist, ist gegenwärtig und zukünftig zugleich, sie ist verborgen da, findet ihre volle Verwirklichung aber erst in der Zukunft. Mit der Sendung des Geistes wird die Vergangenheit seines irdischen Wirkens zur bleibenden Gegenwart. Nach Tod und Auferstehung richtet sich die urchristliche Erwartung auf die Wiederkunft Christi (1 Thess 4,13 ff), deren Zeitpunkt unbekannt ist (Apg 1,6 f). Christus ist das Bild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15). Wer auf dieses Bild schaut, wer sich ihm hingibt, wird verwandelt: Er wird vom Tod zum Leben geführt (Röm 5,12–21; 6,13; Kol 3,9 f), und er weiss, «dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führen wird» (Röm 8,28). Die Zeit nach Ostern ist für Christinnen und Christen insofern Endzeit (1 Petr 1,20), als sie auf die volle Verwirklichung der Herrlichkeit Gottes und damit auf das Ende der Zeit (Offb 10,6) zuläuft, in der «Gott alles in allem» sein wird (1 Kor 15,28). Sie ist eine Zeit der Bewährung, die in Wachsamkeit (Mk 13,33–37), Nüchternheit und tätiger Nächstenliebe (1 Petr 4,1–11) genutzt werden soll (Gal 6,10).
Fazit
«Man pflegt es heute als eine abgemachte Sache anzusehen, dass die Zeit der heidnischen Religionen, die mythische Zeit, kreisförmig, zyklisch verlaufe, die biblische Offenbarungszeit aber zum ersten Mal einen geradlinigen, unumkehrbaren Lauf kenne – von Adam bis Christus, von Christi Tod und Auferstehung bis zu seiner Wiederkehr zum Jüngsten Gericht – und dass der moderne Begriff einer geradlinig sich entwickelnden Weltgeschichte eine säkularisierte Form dieser biblischen Zeit sei. Wie alle allzu einfachen Theorien ist auch diese falsch; man muss vielmehr sagen, dass alle religiöse Zeit zyklisch ist, denn der Mensch, der auf welche Art auch immer von Gott, vom Absoluten ausgegangen und durch irgendeinen Sündenfall von ihm abgesunken ist, muss um jeden Preis durch irgendeine Versöhnung, Erlösung zu ihm zurück. Der Gang auf das Ende zu kann nichts anderes sein als die Wiedergewinnung des verlorenen Ursprungs.»1
Ludger Schwienhorst-Schönberger