Als Jimi Hendrix am Ende eines Konzerts seine Gitarre angezündet hatte und man ihn später fassungslos nach seinen Beweggründen fragte, soll er geantwortet haben: «The time I burned my guitar it was like a sacrifice. You sacrifice the things you love. I love my guitar.»1 Der Song hiess «Wild Thing». In ihm gipfelte das Konzert. Hendrix hatte es offenbar als Gottesdienst erlebt. Als heiliges Ritual. Als Opfer. Seine Gitarre war sein Liebstes, und nur Liebstes kann man opfern.
Zum Drogengebrauch befragt, antwortete ein ehemaliges Mitglied der Band: «I fully admit that drugs influenced our music. Whether it was true or not, we felt we had to be properly stoned to play properly.»2 Sich in Trance zu verlieren, um offen und leer zu sein für das Einwohnen des Heiligen, dessen Medium man für eine heilige Weile wird, gehört zu den Grundzügen des Religiösen.
Der meistzitierte Spruch von Hendrix lautet allerdings: «Music is my religion»3. Befragt, was er damit meine, soll er dies bekannt haben: «I believed in myself more than anything. And, I suppose in a way, that’s also believing in God. If there is a God, and He made you, then if you believe in yourself, you’re also believing in Him […] That doesn’t mean you’ve got to believe in heaven and hell and all that stuff. But it does mean that what you are and what you do is your religion […] When I get up on stage, well, that’s my whole life, that’s my religion. My music is electric church music, if by ‹church› you mean ‹religion›, I am electric religion.»4 Für theologische Dogmatiker ist das starker Tobak, denn Hendrix relativiert Kirche als Institution und subjektiviert Religion als Expressivität.
Religion erlebt eine Renaissance
Hendrix handelte und redete nicht in der Reflektiertheit, die man ekklesiologisch von Theologen erwarten darf. Aber er steht auf seine Weise für den tief greifenden Paradigmenwechsel, vor dem Kirchen sich immer noch drücken. Seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde Religion in Europa politisch und ökonomisch definiert. Zeitgeschichtlich war es weise, die Religionskriege durch zwei Festlegungen zu befrieden: Der Landesfürst verfügt die religiöse Hörigkeit seiner Untertanen – das Territorialprinzip. Der Untertan darf aber, um seine persönliche Obödienz zu pflegen, das Territorium wechseln – das Toleranzprinzip. Diese revolutionierende Neuerung war nachhaltig, gleichzeitig aber auch die erste Säkularisierung. Sie brachte für vier Jahrhunderte die Territorialisierung der Religion und die Konfessionalisierung des Staates. So waren bis 1955 selbstverständlich Norweger lutherisch, Schotten reformiert, Iren katholisch und Briten anglikanisch. Als Glieder der Kirche waren sie automatisch, was ihr Territorium war, und verstanden Kirche, solange sie Kirche im Dorf blieb. Säkular an diesen beiden Prinzipien war, dass sie keiner theologischen Logik folgten, sondern zuerst einer politischen; seit der zweiten Säkularisierung ab 18035 zunehmend auch einer ökonomischen.
Ab 1848 gaben sich europäische Staaten Verfassungen, in denen Institutionen als Stützen der Gesellschaft festgeschrieben wurden, ganz nach dem parareligiösen Grundsatz «extra institutionem nulla salus»: Ehe, Familie, Kirche, Schule, Staat, um nur die wichtigsten zu nennen, waren monokulturell auf Lebenslänglichkeit und Ausschliesslichkeit verpflichtet. Die territorial definierte und institutionell sanktionierte Kirche begleitete ihr Glied von der Wiege bis zur Bahre. Seit 1955 zeigen aber sämtliche Statistiken, dass Territorialität und Institutionalität in dem Masse abnehmen, wie Mobilität und Medialität zunehmen.
Der übliche Kurzschluss lautet, Säkularisierung würde alle erfassen und Religion durch sie verschwinden. Historisch sind die beiden 1555 und 1803 eingeleiteten Säkularisierungen aber längst abgeschlossen und soziologisch ist die Deinstitutionalisierung, nämlich die Dekonstruktion sämtlicher Institutionen, unaufhaltsam im Gang. So wenig jedoch Sexualität und Liebe verschwinden, wenn die Institution Ehe dekonstruiert wird, so wenig verschwinden Spiritualität und Religion, wenn die Institution Kirche durch irreversible Deinstitutionalisierung jegliche Bedeutung verliert. Im Gegenteil: Jimi Hendrix' Handeln und Reden machen stellvertretend für alle Lebenswelten deutlich, dass Religion sich nicht länger institutionell domestizieren lässt. Eher ist eine Renaissance im Gang, denn Religion bestand nie nur aus Festgeschriebenem und Top-Down-Verordnetem, aus objektivem Output – in der Sprache der Religionspsychologie der Heilige Kosmos, sondern zuerst aus anthropologisch Bedingtem und Bottom-Up-Sich-Ausdrückendem, aus subjektivem Input, den ich unter dem Titel «blue religion» fasse: Religion am Montag, im Diffusen und Sinistren, in Spalten, an Rändern, im Untergrund, «a wild thing» eben, stoned. Seit 1955 wird dieser eher unreflektierte und unkultivierte, aber originäre Teil von Religion zunehmend sichtbar. Konsum ist niemals ihr Grund, sondern immer nur ihre kapitalistische Nutzung. Er strömt ins Vakuum, das die Institutionen hinterlassen.
Keine hübsche Girlande
Wenn heute nichtterritoriale «lieux d'église» entstehen, etwa Musikkirchen, die sich je nach Lebenswelt als Popkirche, Heavy Metal Church oder Jazz Ministry profilieren, dann geht es also weder um Stile, die man je nach Mode wechselt, noch um Konsum, mit dem sich alte Kirche jungen Milieus anbiedern wollte, was nur lächerlich wäre. Nein, es geht, wenn es ernst gemeint ist wie bei Hendrix, um einen Paradigmenwechsel: Menschen vergemeinschaften sich nicht mehr wie seit 1555 extrinsisch über Territorialität, sondern wie seit 1955 intrinsisch über Expressivität. Missionale Ekklesiologie weiss das, Kirche mit einer Mission auch.
Wer etwa Jazz als Sprache versteht, die ihn existenziell ausdrückt und ohne die er nicht sein kann, auf die er hört und die er braucht in Freud und Leid, die seine Stimme des Herzens ist und ebenso unersetzlich wie sein Herz, der wird in einer Jazzkirche seine Sprache hören und mitreden, verstehen und sich verstanden fühlen.
Bluechurch heisst das weltweite Netzwerk und Label, in dem sich seit 2017 jazznahe Kirchenleute und kirchennahe Jazzleute sammeln, um sich zu engagieren: für Jazzgottesdienste als gelegentliche Formate, am besten aber für dauerhaft verortete Jazz Ministry in jeder Stadt ab hunderttausend Einwohner. Jazzkirche soll ekklesiologisch im vollen Sinn Kirche sein: Auch hier wird gebetet und gesungen, verkündigt und gefeiert. Was Auftrag der Kirche ist, nämlich mit Menschen Gelegenheiten zum Menschsein zu gestalten statt für Menschen Angebote zum religiösen Konsum zu erfinden, soll auch in Jazz Ministry der Fall sein.
Erste Erfahrungen sind gemacht. So ist etwa die geschriebene Kanzelrede des 19. Jahrhunderts nicht kongenial mit der Improvisation des Jazz. Verkündigung im Jazzgottesdienst muss Wortimprovisation sein und im Dialog mit dem Jazz stehen. Musik ist keine hübsche Girlande, sondern Verkündigung. Wer dies im ganzen Gottesdienst übt, von der Begrüssung bis zum Segen, der erlebt sich selbst, das expressive Zusammenspiel und die aktiv beteiligte Gemeinde, ja sogar den Kirchenraum, ganz anders: in Geistesgegenwart und auf Augenhöhe, präsent und persönlich, in actu und in situ, hic et nunc. Im besten Fall entsteht jene Unwiederholbarkeit, die inspirierte Kultur und kultivierte Inspiration auszeichnet.
Matthias Krieg