«Wir bewegen uns auf dem Freizeitmarkt»

Seit 15 Jahren findet der Oberstufenunterricht in Männedorf-Uetikon in der Pfarrei statt. Die SKZ sprach mit Domenic Gabathuler über die Erfahrungen und die Auswirkungen auf das Pfarreileben und die Pastoral.

Domenic Gabathuler ist Pfarreibeauftragter und leitet zusammen mit seiner Frau, Barbara Ulsamer, die Pfarrei Männedorf-Uetikon. (Bild: zvg)

 

SKZ: Herr Gabathuler, wie waren die Anfangserfahrungen?
Domenic Gabathuler: Der Wechsel betraf damals ausschliesslich die Oberstufe. Der kirchliche Religionsunterricht (RU) auf der Unter- und der Mittelstufe fand im Kanton Zürich immer schon in der Pfarrei statt, wie auch die Firmkatechese stets ein ausserschulisches Angebot war.1 Diese reiche Erfahrung mit ausserschulischem Religionsunterricht erleichterte den Wechsel von der Schule in die Pfarrei in der Oberstufe wesentlich. Die notwendige Infrastruktur in den Pfarreizentren war bereits vorhanden. Als Seelsorgeteam waren wir proaktiv und haben zwei Jahre vor dem offiziellen Wechsel in unseren beiden Schulgemeinden mit dem ausserschulischen Oberstufenprojekt gestartet. Unser Vorteil damals war, dass eine angehende Religionspädagogin in Ausbildung in unserer Pfarrei wirkte. Sie wählte die Gestaltung des ausserschulischen Oberstufenreligionsunterrichts in der Pfarrei als ihr Diplomprojekt. Wir bekamen dadurch auch fachliche Unterstützung vonseiten des Religionspädagogischen Instituts in Luzern. Aus dem Prozess lernte ich, wie wichtig es ist, Umstellungen frühzeitig anzugehen, so dass sie ohne zeitlichen Druck durchführbar sind, vorausgesetzt, die personellen Ressourcen sind vorhanden.

Was schätzen Sie am RU in der Pfarrei?
Ich bin ein Freund des ausserschulischen RU. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Einerseits schenkt der ausserschulische RU den Katechetinnen und Katecheten viel zeitliche, räumliche und kreative Freiheit. Sie können den RU im Pfarreizentrum halten, die Kirche als Lernort miteinbeziehen oder für die Schüler/innen eine spannende Exkursion organisieren. Andererseits schafft der RU in der Pfarrei die Möglichkeit, ihn bewusst ins Pfarreileben einzubeziehen und die klassischen Grundvollzüge der Kirche – diakonia, leiturgie, martyria und vor allem koinonia – erlebnisbezogen zu vermitteln. Kirche so hautnah zu erleben, beheimatet die Kinder und Jugendlichen in der Pfarrei. Die Oberstufenschülerinnen und -schüler können beispielsweise bei der Rosenaktion in der Fastenzeit mitwirken, für die offene ökumenische Weihnachtsfeier Guetzli backen oder sich bei Pfarreianlässen engagieren. Ich habe Ihnen hier unser Wahlfachkursheft für die Oberstufe mitgebracht. Die Schülerinnen und Schüler stellen ihren Religionsunterricht selbst zusammen – je nach persönlichem Interesse und zeitlichen Ressourcen. Sie haben 16 Wochenstunden pro Schuljahr zu belegen. Da gibt es Kurse wie «Gemeinsam lesen: Der König von Narnia», «SUCHT überall – bei dir und bei mir!», «Hilfsgütersammlung für Osteuropa», «Glaube oder Naturwissenschaft?» oder «Orgelbau Kuhn».2 Die Möglichkeit, sich ihr eigenes Unterrichtsprogramm zusammenstellen zu können, schätzen die Schülerinnen und Schüler sehr. Wer unseren RU besucht, hat sich dafür selbst entschieden und ist daher auch entsprechend interessiert und motiviert.

Das klingt attraktiv. Wo liegen die Herausforderungen?
Ja, so zu unterrichten, finde ich höchst spannend. Gleichzeitig verlangt dieses Kurssystem eine hohe Flexibilität. Und: Wir bewegen uns mit unseren Angeboten auf dem Freizeitmarkt. Wir stehen in Konkurrenz zu anderen Angeboten für Kinder und Jugendliche wie Sport und Musik. Das ist die grösste Herausforderung, denn dies erfordert einen grundsätzlichen Wechsel im Denken: vom System Schule hin zum Freizeitmarkt. Gleichzeitig motiviert dies die Katechetinnen und Katecheten, attraktive Kurse anzubieten, um sich auf diesem «Markt» auch zu bewähren. Zudem ist dieses Modell, das wir hier haben, organisatorisch aufwendig. Für die Koordination der Kurse auf der Oberstufe haben wir extra eine Sekretariatsstelle um zehn Prozent aufgestockt. Die Sekretärin nimmt die Anmeldungen entgegen, schreibt Erinnerungsmails, zählt die Punkte usw. Aber auch beim RU auf der Unterstufe und Mittelstufe merken wir, wie aufwendig ausserschulischer RU sein kann. Die Anmeldungen für das kommende Schuljahr laufen bei uns jeweils bis Mitte Juni. Die Erfahrung zeigt, dass sich bis dahin erst die Hälfte der Kinder angemeldet hat. Das heisst dann für uns als Katecheseteam, wir gehen jeder Schülerin, jedem Schüler einzeln nach, rufen bei den Familien an, schreiben E-Mails usw. Viele haben die Anmeldung schlicht vergessen, für andere passt das Zeitfenster nicht in ihren Wochenplan. Da bieten wir je nach personellen Ressourcen Alternativangebote an. Das Ziel ist, die Schülerinnen und Schüler möglichst im Religionsunterricht zu halten. In Zahlen ausgedrückt: Etwa 90 Prozent der Erstklässlerinnen und Erstklässler nehmen aktuell am Religionsunterricht teil; nach der Erstkommunion verlieren wir ein paar Kinder, nach der sechsten Klasse noch einmal. Letzteres hängt damit zusammen, dass etliche Kinder ins Gymnasium wechseln und sich ihre zeitlichen Ressourcen entsprechend verknappen. Aktuell belegen ca. 80 von 120 Oberstufenschülerinnen und -schülern unsere Kurse. Ausserschulischen Religionsunterricht in der Pfarrei anzubieten bedeutet auch, den Menschen nachzugehen, ohne Druck aufzubauen und ohne missionarisch zu wirken. Dieses Nachgehen kann sehr anstrengend sein. Die Bedürfnisse der Familien und Kinder sind viel individueller geworden und auch die Verbindlichkeit hat spürbar nachgelassen. Bei Lehrpersonen kann dies das Gefühl auslösen, eine Art Bittsteller zu sein. Wenn jemand in anderen Kantonen zuvor an der Schule unterrichtet hat, kann dieser Rollenwechsel eventuell als Statusverlust erlebt werden. Unter dem Strich macht für mich der Gewinn, den wir durch den RU in der Pfarrei erhalten, aber bei Weitem den Verlust wett, den wir durch das Ausscheiden aus dem Schulsystem erlitten haben. Wir sind zwar weiter von der Schule weg, dafür deutlich näher bei den Familien.

Wie gestalten Sie den RU auf der Unter- und Mittelstufe?
Dieser Unterricht findet über den Mittag statt. Zuerst isst die Lehrperson gemeinsam mit der Klasse zu Mittag. Die Kinder nehmen einen Lunch mit. Die Getränke offeriert die Pfarrei. Nach dem Mittagessen unterrichten die Katechetinnen und Katecheten. Es ist ein klassischeres Gefäss. Andere Zeitgefässe wie Mittwochnachmittag oder Samstag, in denen didaktisch und methodisch mehr möglich wäre, haben sich hier in Männedorf und Uetikon als nicht tauglich erwiesen. Am Mittwochnachmittag gehen die Kinder zum Musikunterricht, betreiben Sport oder treffen Freunde. Am Wochenende sind viele Familien weg. So ist der RU über den Mittag das richtige Modell für unsere Pfarrei. Jede Pfarrei löst diese Frage entsprechend ihren örtlichen Gegebenheiten. RU wie Katechese sind immer abhängig vom konkreten Zeit- und Raumangebot sowie von personellen und finanziellen Ressourcen. Dies alles bestimmt die Attraktivität des RU bzw. der Katechese mit.

Wie wirkt sich der RU auf das Pfarreileben aus?
Der RU und die Pfarrei rücken enger zusammen. Für die Kinder und Jugendlichen findet alles am selben Ort statt: der Unterricht, die Jugendarbeit, der Gottesdienst. Für die kirchliche Beheimatung ist der RU in der Pfarrei hervorragend. Die Kinder können eine Beziehung zur Pfarrei aufbauen. Sie erleben Pfarrei. Speziell geschieht dies bei uns zum Beispiel, wenn wir viermal im Jahr einen sogenannten «mitenand sunntig» feiern. Nach dem Familiengottesdienst gibt es Programme für Kinder und Erwachsene, wir geniessen einen Apéro und ein gemeinsames Mittagessen. Schülerinnen und Schüler der Oberstufe wirken an diesem Sonntag mit: Sie betreuen Kinder, engagieren sich beim Spielprogramm und machen so erste Leitungserfahrungen. Manche helfen beim Tischen, schöpfen das Mittagessen und waschen ab. So entstehen Kontakte zwischen Jung und Alt, zwischen Kerngemeinde und jenen, die gelegentlich ein Angebot der Pfarrei besuchen. Es gibt Pfarreien, die diese Vernetzung noch enger suchen und regelrecht eine intergenerationelle Katechese aufgebaut haben. Die Voraussetzungen hierfür sind in Männedorf-Uetikon von der Pfarreistruktur, d. h. von den zeitlichen Ressourcen der Familien und ihrem Freizeitverhalten her, nicht gegeben.

Wie beeinflusst der RU die Pastoral?
Uns ist es ein grosses Anliegen, dass das ganze Seelsorgeteam, ausser der Seniorenseelsorgerin, unterrichtet. Dadurch können wir die Familien näher kennenlernen und über die Jahre zu ihnen einen guten Kontakt aufbauen. Wir sind nah bei den Familien und merken schnell, welche Bedürfnisse sie haben und wie die pastoralen Angebote bei ihnen ankommen. Als Seelsorge- und Katecheseteam ist es uns ein Anliegen, unseren Glauben lebensnah weiterzugeben und Kirche positiv erfahrbar zu machen. Dabei haben wir die konkreten örtlichen Gegebenheiten im Blick. Diese beiden Pole prägen unsere Pastoral. Was mich beschäftigt, ist die Frage, wer in Zukunft qualifizierten Religionsunterricht und Katechese anbieten wird. Uns als Kirche werden bald die notwendigen personellen Ressourcen fehlen, um einen vielfältigen, lebendigen und attraktiven RU anzubieten. Das gibt mir zu denken.

Interview: Maria Hässig

 

1 In der Pfarrei Männedorf-Uetikon findet die Firmkatechese seit 2008 mit 17+ statt, davor war sie auf der dritten Oberstufe angesiedelt.

2 Das Wahlfachkursheft ist einsehbar unter www.kath-maennedorf-uetikon.ch (Shortlink Dokument: https://is.gd/F874T7).