Paulus skizziert, wie er sich eine christliche Gemeinde vorstellt: «Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt. […] Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm» (1 Kor 12,13). Für Paulus ist Kirche der Leib Christi, alle Gläubigen sind seine geistbegabten Glieder. In einer solchen Gemeinde offenbart sich Gott, indem er ein interaktives Geschehen zwischen sich und den Menschen stiftet. Paulus macht das Pfingstereignis zur Grundstruktur der Kirche: Über jedem Kopf züngelt dieselbe Flamme.
Solche Gemeinschaften sind lebendig und agil und damit bestens für Aufbau und Entfaltung gerüstet. Doch das Fehlen einer funktionalen Struktur (Hierarchie) macht die charismatischen Gemeinden anfällig für Fehlentwicklungen und Streit. Das zeigt sich in der Didache, der ältesten Gemeindeordnung. Es ist ein heikles Unterfangen, Prophetien zu kritisieren – es droht der Vorwurf, die Sünde gegen den Heiligen Geist zu begehen. Aber immerhin kann der Lebenswandel einen Hinweis auf die Vertrauenswürdigkeit geben. So beschreibt der heidnische Spötter Lukian, wie man sich als «Prophet» von naiven Christinnen und Christen durchfüttern lassen könne. Der Ruf nach Ordnung wird laut. Nach einer ersten charismatischen Pionierphase treten die Gemeinden in einen Institutionalisierungsprozess ein.
Epochale Adaption
Um das Jahr 95 schreibt Clemens aus Rom an die Gemeinde von Korinth einen längeren Brief, weil dort ein Konflikt zwischen Presbytern und einigen «Jungen» schwelt. Das Zerwürfnis gipfelt darin, dass altgediente Presbyter aus ihrem Amt entlassen werden. Was genau Gegenstand des Streites war, wissen wir nicht. Was den Verfasser beunruhigt, ist denn auch nicht der aktuelle Konflikt, sondern das grundsätzliche Problem, in welchem die christlichen Gemeinden Ende des ersten Jahrhunderts feststecken.
Die Krönung seiner Argumentation bildet der Gedankengang in den Kapiteln 40 bis 42, der für viele Jahrhunderte die christlichen Kirchen und ihre Strukturen dominieren wird: «Dem Hohepriester sind nämlich eigene Verrichtungen zugeteilt, auch den Priestern ist ihr eigener Platz angewiesen, und den Leviten obliegen eigene Dienstleistungen; der Laie ist an die Laienvorschriften gebunden. Jeder von uns, Brüder, soll in seinem Stande Gott danken, indem er sich ein gutes Gewissen bewahrt und die für seine Verrichtung festgesetzte Regel nicht übertritt, in würdigem Wandel!»
Hier findet eine epochale Adaption statt. Im Hebräerbrief (4–7) wird Christus als Hohepriester des Neuen Bundes vorgestellt. Dieser Bund wird mit der Ordnung Melchisedeks identifiziert, die der Ordnung Aarons gegenübersteht. Clemens geht einen Schritt weiter: Er schafft einen christlichen Klerus, indem er die alte jüdische Ordnung mit ihren drei Hierarchiestufen auf die christliche Gemeinde appliziert. Er setzt den Episkopos mit dem Hohepriester gleich, der Presbyter entspricht einem Priester und der Diakon einem Leviten.
Bisher kümmerten sich in den judenchristlichen Gemeinden die «Ältesten» (gr. «presbyter») um organisatorische Fragen. Solche Gemeinden strukturierten sich wie jüdische Synagogengemeinden. Heidenchristliche Gemeinden kannten das Amt eines Episkopos (gr. «Geschäftsführer»), und dessen Gehilfe war der Diakon. In den Spätschriften des Neuen Testaments werden beide Organisationsformen verbunden und es entsteht das dreiteilige Amt: Bischof – Presbyter – Diakon.
Laien keine Offenbarungsträger
Clemens führt im Christentum eine Hierarchie ein, eine heilige Herrschaft. Das zeigt sich deutlich an einer weiteren Gruppe von Gläubigen, die bei ihm zum ersten Mal erwähnt werden: Die Laien (gr. «zum Volk gehörig»), der Rest, der nicht der Hierarchie angehört. Eine strikte Arbeitsteilung resultiert: «Die Bischöfe haben ihre eigenen Dienste.» Das hier verwendete griechische Wort für Dienst wird bald für alle kultischen Handlungen stehen: die Liturgie. Den Priestern ist «ihr eigener Platz angewiesen» und die Leviten-Diakone haben ihre «eigenen Dienstleistungen». Doch Laien sind «an die Laienvorschriften gebunden», denn in der Ordnung des Clemens gibt es für sie keine Aufgaben mehr. Die Prophetinnen, Lehrer, Wundertäterinnen gehören der Vergangenheit an – Clemens erwähnt sie nicht. Gnadengaben verschwinden damit jedoch nicht, sie werden vielmehr umgedeutet: Die soziale Stellung wird nach Clemens zu einem «Charisma», das jeder und jede dankbar akzeptieren soll. Dazu zählt auch das Geschlecht: So selbstverständlich, wie der Klerus im Alten Bund nur Männern vorbehalten war, so steht die Hierarchie des Neuen Bundes ebenfalls nur ihnen offen.
Clemens führt eine neue Organisationsform ein und mit ihr ein alternatives Modell der Offenbarung, das der neuen Gemeindestruktur zugrunde liegt. Die charismatische Gemeindeordnung basiert auf dem kommunikationstheoretischen Offenbarungsmodell, ihr Vorbild ist das Pfingstereignis. Die neue hierarchische Ordnung des Clemens, das sogenannte instruktionstheoretische Modell, nimmt sich die Übergabe des Gesetzes an Mose zum Vorbild. Nach Clemens sendet Gott Jesus mit einem Auftrag in die Welt. Jesus wählt seinerseits die Apostel, übergibt ihnen die offenbarte Instruktion und sendet sie aus. Die Apostel setzen ihrerseits Bischöfe, Diakone und Priester ein. Ihre Sukzession garantiert die unverfälschte Weitergabe des Evangeliums, und die Offenbarung wird an ein Amt gebunden. Laien als Offenbarungsträger sind nicht vorgesehen.
Charismatische Erneuerungen
Clemens hat ein effizientes Instrument zur Behebung der Streitigkeiten seiner Zeit geschaffen: Nicht nur die Lebensweise, auch die Lehre und die Prophetien können beurteilt werden, indem man sie mit der von Christus instruierten und von den Aposteln tradierten Regel abgleicht. Wenn etwa der reiche Schiffsreeder Markion um 140 zu wissen vorgibt, dass das Alte Testament von einem bösen Gott stamme, so kann dies als häretisch taxiert werden.
Doch für «Laien», insbesondere Frauen und jene, die aus einfachen Verhältnissen stammen, gibt es immer weniger Freiräume zur Mitgestaltung. So kommt es, dass sich nur Jahrzehnte nach der Abfassung des Clemensbriefs in den immer starrer werdenden christlichen Gemeinden eine Gegenbewegung ausbreitet. Ihr zentrales Anliegen ist es, die Charismen als Gnadengaben des Heiligen Geistes wieder ins Zentrum des christlichen Lebens zu rücken. Der Montanismus nannte sich selbst «Neue Prophetie» – und hinterliess ein schwieriges Erbe. Er war keineswegs die letzte «charismatische Erneuerung» der Kirche. Mit den Wüstenvätern um Antonius steht zu Beginn des vierten Jahrhunderts eine nächste Bewegung bereit, um auf ihre Weise an das charismatische Erbe zu erinnern. Unzählige geistbewegte Wogen haben seither die Kirche erfasst. Manche haben die Christenheit reich beschenkt, andere haben Wunden hinterlassen, oft war beides der Fall.
Das Verhältnis von Geist und Amt gilt als eines der schwersten Probleme der frühen Kirchengeschichte (H. Conzelmann)1, und bleibt es bis heute. Wie gerne werden Geist und Recht, Charisma und Institution gegeneinander ausgespielt. Trotz aller Spannung zwischen Amt und Charisma kann es sich nicht um Gegensätze handeln. R. Schnackenburg weist darauf hin, dass beide je für sich mit dem Heiligen Geist zu tun haben: Beide sind sie Lebenskraft der Kirche, die vom auferstandenen Herrn ausgeht.2 Er folgert, dass eine Überwindung der Spannungen zwischen Amt und Charisma möglich ist, wenn wir wieder die brüderlich-schwesterliche Gemeinschaft verwirklichen, die Jesus gewünscht hat.
Das Ringen um Amt und Charisma, um Gottesdienstordnungen und «Fresh Expressions» ist Zeichen einer lebendigen, geistbewegten Pfarrei. Ist nicht das Misstrauen und das egozentrische Beharren auf der eigenen Position eine Form der Sünde wider den Heiligen Geist? Wir haben einen Auftrag, das göttliche Wirken im Gegenüber zu erkennen und anzuerkennen. An Übungsgelegenheiten für geisterfüllte Begegnungen in unseren Gemeinschaften und Pfarreien, Gremien und Bistümern mangelt es nicht. In diesem Sinne:
Frohe Pfingsten!
Gregor Emmenegger