«Hans Küng versteht es, wie kein anderer seiner Kollegen, für Leben und Bewegung in Theologie und Kirche zu sorgen, und zwar von seinem ersten Betreten der theologischen Bühne an bis zum Eklat des Entzugs der Lehrerlaubnis», so urteilt Medard Kehl,1 und Jan-Heiner Tück sekundiert gut 35 Jahre später: «Hans Küng hat ein waches Sensorium für Zeitfragen und ein grosses Talent der Vermittlung.» Dabei erfindet er seine Rückfragen nicht, sondern nimmt sie «als Unbehagen im Kirchenvolk wahr» und macht sie «pointiert zugespitzt und in den Medien publik […]. Es sind Probleme, die eine zeitsensible Theologie nicht ignorieren kann, Probleme überdies, die den schwelenden Modernitätskonflikt der katholischen Kirche anzeigen»2. Das gilt auch und gerade für das Themenfeld der Ökumene.
Gottes- und Kirchenfrage
Schon in seiner Programmschrift zum Konzil «Konzil und Wiedervereinigung» (1960)3 wird beides sichtbar: der Sensus für die Fragen, die an der Zeit sind, und die Fähigkeit, sie prägnant und öffentlichkeitswirksam zu inszenieren. So kulminiert die theologiegeschichtlich angelegte Skizze über die Hauptschwierigkeiten einer Reform der Kirche, die Küng als Bedingung der Möglichkeit auf dem Weg zu einer Einheit der Kirche versteht, in der provokanten Frage nach dem Petrusamt und dem Petrusdienst in seiner durch die Dogmen des Ersten Vatikanischen Konzils geprägten Form. Provokant deshalb, weil Hans Küng angesichts des ungeheuren Anspruchs der Päpste, «Stellvertreter Christi zu sein», die Frage in den Raum stellt: Wird «die heutige katholische Kirche mit dem heutigen Primat in seiner geschichtlichen Verwirklichung der Kirchenleitung, der Kirchenpolitik» nicht zum unlösbaren Problem für die Einheit der Kirche?
Die im Blick auf die zukünftig zu ermöglichende Wiedervereinigung der Kirchen aufgeworfenen Fragen drängen Hans Küng dann zu einer Gesamtdarstellung seiner Ekklesiologie. Im Vorwort zu «Die Kirche» (1967) wird der innere Beweggrund der Beschäftigung mit den ekklesiologischen Fragen deutlich: «Die Gottesfrage ist wichtiger als die Kirchenfrage. Aber vielfach steht die zweite der ersten im Wege. Das müsste nicht so sein. Und hier soll der Versuch gemacht werden, zu zeigen, dass es nicht so sein muss.»4 Die Frage nach der Kirche ist also nur im Horizont der Gottesfrage angemessen gestellt. Die Resonanz, die dieses Buch erfährt, lässt sich am besten anhand der fast schon euphorisch zu nennenden (wenn auch kritischen) Rezension aus der Feder Hans Urs von Balthasars skizzieren: «Hans Küngs Buch ‹Die Kirche› ist […] [ein] Buch der Leidenschaft, aber überlegen und kraftvoll im Aufbau, durchsichtig in der Linienführung, in einem harten, klaren, zum Teil rasanten, rhetorischen Stil verfasst. Es bietet bewusst eine ökumenische Kirchenlehre, an deren Ende im Grunde jedes katholische Ärgernis für den Protestanten aus der Welt geschafft ist. […] Küng leistet als Ausmister ganze Arbeit, er gleicht einem Herkules im Augiasstall oder einem blöcketürmenden Zyklopen.»5
Sicheres Gespür
Hans Küng wird in seiner Herkulesarbeit zur Kirche und Kirchenreform letztlich durch die (nicht nur kirchen-)geschichtlichen Entwicklungen eingeholt: Es ist weder Zufall noch blosse Koinzidenz, dass der Versuch des kirchlichen Lehramtes, die formale Autorität kirchlicher Hierarchie über das Gewissen der und des einzelnen Gläubigen zu stellen, genau im Jahr 1968 scheitert und der Streit darum die Katholische Kirche in eine strukturelle und theologische Legitimationskrise führt, von der sie sich bis heute nicht erholt hat und die daher als noch zu bewältigende Erblast gelten muss. Die Enzyklika Pauls VI. «Humanae vitae» geht zu Recht als Dammbruch in die Kirchengeschichte ein. Wie kein ein anderer hat Hans Küng bereits damals ein sicheres Gespür für die Brisanz der Lage. So stellt er kurze Zeit später in «Unfehlbar – eine Anfrage» die entscheidende Frage: die nach der Plausibilität der Strukturen, die zu einer solchen Entscheidung geführt haben. Denn angesichts des Widerstandes, den die Entscheidung Pauls VI. auslöst, fragen sich natürlich viele, ob diese Lehre nicht ein «Irrtum» und darum nicht verpflichtend sei. Hans Küng wendet die Anfrage ins Strukturell-Prinzipielle: Die «Lehre [von der Unfehlbarkeit], die so wenig in Schrift und Tradition begründet ist und zudem sich mit so vielen widersprechenden Fakten der Geschichte der Theologie und des Dogmas auseinanderzusetzen hat – die Enzyklika Humanae vitae ist ja nur das jüngste Beispiel von ‹Irrtümern› des Lehramtes –, kann die Kirche nicht verpflichten»6.
Die weiteren Entwicklungen und die daraus folgenden Konsequenzen sind allseits bekannt und werden heute noch schmerzvoll sichtbar. Denn die gerade auch strukturell begründete sogenannte «Kirchenkrise» gewinnt ungeahnte Ausmasse und man erkennt nun, «was passiert, wenn die konkrete Sozialgestalt der Kirche es vielen Menschen verunmöglicht, sich auf den Weg zu Gott zu machen»; darin liegt heute «das eigentlich Dramatische der Kirchenkrise»7. Gerade die veränderte Artikulation der Gottesfrage in der späten Moderne bedingt doch, dass man «die Kirche nur dann mit der Frage nach Gott, ja Gott selbst nur dann mit der Kirche identifiziert, wenn man sie als einen Ort vermutet, an dem die Gottesfrage in ihrer ganzen Ambivalenz und damit als Frage angesichts der konkreten Lebenswirklichkeiten der Menschen von heute gestellt werden darf und wird»8. Hier treten ekklesiologischen Desiderate einer katholischen Kirchenreform wie in einem Brennglas zutage und es finden sich jene klassischen Fragen wieder, die Hans Küng von Beginn an bewegen. Sie werden heute immer mehr zu existenziellen Grundfragen an die Katholische Kirche.
Seltene Begabung
Im Rückblick aber ist eine ganz andere Dynamik vielleicht noch wichtiger. Gerade weil ausser Frage steht, dass Hans Küng für «sehr viele Gläubige und nach dem Glauben Suchende und Fragende […], für solche, die dem Glauben interessiert oder kritisch oder zweifelnd gegenüberstehen, […] zum Symbol einer offenen Kirche geworden [ist], die fähig ist, ihre Grenzen immer wieder auf die Begegnung mit dem modernen Bewusstsein des Menschen hin zu überschreiten, ohne dabei ihre Identität zu verlieren»9 – Medard Kehl spricht anschaulich von der «missionarischen Potenz» des «Autors Küng»10 – ist eine Konsequenz nicht von der Hand zu weisen: «Die institutionelle Distanzierung, welche das Lehramt durch den Entzug der Lehrbefugnis vollzogen hat, ist faktisch doch so gravierend und weittragend, dass sie eine auch nur partielle Identifizierung der Kirche mit dem missionarischen Dienst Küngs kaum [mehr] erkennen lässt. Dadurch werden zwar nicht die Popularität und der Einfluss Küngs gemindert, wohl aber die Indienstnahme einer seltenen Begabung als (durchaus mühsames) Charisma in der Kirche. Bei allem Respekt vor der Entscheidung des Lehramts, bei allem Verständnis auch für die Gründe dieser Entscheidung – ein stärkeres In-Betracht-Ziehen des zweiten ekklesiologischen Grundprinzips (‹Kirche für die anderen›) hätte möglicherweise doch zu einer Entscheidung geführt, die der Sache der Kirche und ihrer Einheit im Glauben mehr gedient hätte»11 – ein Resümee, dem man auch heute nichts mehr hinzufügen muss.
Johanna Rahner