Die Christen in Syrien und im Irak fliehen, zusammen mit Menschen anderer Minderheiten wie den Jesiden und den Aleviten vor der Bedrohung der brutalen Kämpfer des Islamischen Staates IS. Ein Genozid steht im Raum, und Millionen Flüchtlinge leiden zurzeit im Mittleren Osten. Eine junge Frau und zwei Männer berichten hier, wie sie zurzeit die Situation erleben. Sie wohnen seit längerem in der Schweiz. Ihre Familien, Freunde und Bekannten aber leben teilweise unter dem Terror der IS oder sind auf der Flucht. M.K.* hat mütterlicherseits Verwandte im Irak. Er weiss nicht, wie es ihnen geht, denn er kann sie per Telefon nicht erreichen. «Wo sind sie? Wie geht es ihnen?», fragt er verzweifelt. Man habe ein Massengrab in dem Dorf gefunden, wo ein Teil der Familie lebt …, der gestandene Mann schweigt und kämpft um Fassung. Die ganze Situation sei bitter. «Ich informiere mich täglich im Fernsehen, Internet, durch Zeitungsartikel und Quellen der Jesiden in Europa und fühle mich schrecklich hilflos.» Diana Adlun-Sezer bekommt via Internet zwar «viel von der Situation mit. Ich fühle aber einen grossen Schmerz, da man so wenig von hier aus helfen und tun kann». Die junge Juristin hat keine Nahestehenden im kritischen Gebiet, doch die Situation beschäftigt sie sehr.
Wissen und nicht helfen können
Pater Jacub* erzählt: «Im Moment ist es sehr schwierig, Kontakt zu den Glaubensgeschwistern und Angehörigen in Syrien zu halten. Die Situation wird jeden Tag schlimmer, wie ich gehört habe. Die Christen werden gezielt getötet und aus ihrem Land vertrieben. Das tägliche Leid ist erschreckend, es gibt Hinrichtungen, Kreuzigungen, auch Vergewaltigungen gehören zur täglichen Praxis der IS.» Der islamistische Terror nehme im ganzen arabischen Raum zu und werde immer brutaler. Die Christen, Jesiden und Aleviten in der Schweiz, die aus diesem Gebiet kommen, sind schockiert und ohnmächtig angesichts des Terrors der IS und der Verfolgung. «Diese Gruppen wollen eine islamistische Weltreligion errichten und die Scharia durchsetzen. Sie wollen das osmanische Reich wieder errichten. Wenn das gelingt, machen sie im Westen weiter», befürchtet der Pater. Der Westen habe das lange – vielleicht zu lange – nicht ernst genommen. Man müsse jetzt dagegen vorgehen, bevor es «zu spät ist». Und er erinnert an den Genozid an den Armeniern 1915. Der Blick auf diese brutale Verfolgung wird von syrischen Christen immer wieder genannt, sie sehen klar die Parallelen. Auch die Jesiden wurden bereits früher in der Region verfolgt, M.K. erinnert daran, dass es auch 1993/94 Massaker an Gläubigen seiner Glaubensgemeinschaft gegeben habe – auch einer seiner Onkel und ein Cousin wurden ermordet. «Wir leben schon lange mit der Angst, wir mussten uns immer wieder verstecken», sagt er. Und berichtet, wie seine Mutter das Abendgebet als Schutzmauer gegen die Angst der Kinder einsetzte.
Glaube als Hilfe
Was bedeuten für die Befragten ihre Glaubensgemeinschaften? Für alle ist es ein wichtiger Ort der Gemeinschaft. «Ich besuche die Kirche regelmässig, da mir der Glaube sehr viel bedeutet, mir viel Kraft gibt. Die Kirche ist auch für unsere Volk wichtig – gerade als Volk ohne eigenes Land – und schenkt Zusammenhalt», sagt Diana Adlun-Sezer. Auch M.K. findet hier Geborgenheit – besonders, weil es in der Schweiz nur wenige Jesiden gibt, sind ihm Gebet und Gottesdienste wichtig, um sich nicht allein zu fühlen.
Welche Hilfe wünschen sich Adlun-Sezer, M.K., und Pater Jacub von den Schweizer Kirchen? «Dass sie für ihre Brüder und Schwestern, die um ihr Leben fürchten, mehr beten. Und sich für sie einsetzen. Und natürlich brauchen sie finanzielle Unterstützung», zählt der Pater auf. Mit Nachdruck appelliert er: «Die Christen im Mittleren Osten müssen geschützt werden. Die humanitäre Hilfe ist dringend nötig, und sie muss schnell geleistet werden.» Auch M.K. verweist auf Spenden und humanitäre Hilfe. Ausserdem gebe es nun viele Waisenkinder – hier wünscht er sich die Möglichkeit, dass man diese auch in der Schweiz adoptieren könnte. Waffen brauche man jetzt ebenfalls in den bedrohten Gebieten, um sich verteidigen zu können gegen die Barbarei. «Und die Muslime müssen – auch in der Schweiz – Farbe bekennen, ob sie den IS ablehnen oder nicht.» Er berichtet, dass im Zürcher Weinland ein Imam in einer Moschee den Terror lobe; hier sei eine klare juristische Reaktion gefragt. Er fordert aber auch, mehr Dialog mit dem Islam, damit die gegenseitigen Vorurteile abgebaut werden. «Im Garten gibt es doch viele Blumen, auch kleine. Sie sind alle schön. Im Garten der Religionen sollte das Gleiche gelten, alle sollen ihren Raum erhalten», sagt er.
Klare Grenzen ziehen – aufeinander zugehen
«Verständnis allein genügt nicht. Man sollte mehr Kirchen und weniger Moscheen in der Schweiz bauen. Warum in einem christlichen Land den Islam vergrössern, wenn in der Türkei, Syrien usw. das Umgekehrte passiert und Kirchen zerstört werden?», meint dagegen die junge Frau. Im Zuge der Vorbereitung des nationalen Gottesdienstes der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und der Schweizerischen Evangelischen Allianz für die Verfolgten am 7. September 2014 in Bern formulierten syrische Christen mir gegenüber immer wieder Vorbehalte gegen den Islam und erinnerten an Verfolgung und Gewalt. Den nationalen Gottesdienst (der sehr gut besucht war) loben alle – es habe einen Raum des Verständnisses gegeben, das Leid sei gesehen und anerkannt worden. «Hier wurde Anteilnahme gezeigt; und es wurde gezeigt, dass mehr Leute betroffen sind als man denkt», so die Juristin.
Etwas, was nicht selbstverständlich ist – nach einigem Zögern berichten Betroffene, dass sie sich oft von Schweizerinnen und Schweizern nicht ganz ernst genommen fühlen. Diese hätten Jahrhunderte ohne Krieg leben dürfen und daher – Gott sei Dank – nicht viel Erfahrung mit solchen Situationen. Da mangele es dann nicht selten an Einfühlungsvermögen und Mitgefühl. Es reiche doch, dass man zuhöre, nachfrage. Und die Ohnmacht miteinander teile. M.K. betont dazu, dass er gerne in Kirchgemeinden und Pfarreien über seinen Glauben – den hier wenige Menschen kennen – berichte, aber auch über die Situation im Mittleren Osten. Die Kämpfer des IS bezeichnet er dabei immer wieder als «nicht mehr menschlich».
Die Schweizer Bischofskonferenz: Stellung beziehen
Hatte Anfang September die Schweizer Bischofskonferenz die Verantwortlichen der muslimischen Verbände aufgefordert, sich klar vom Terror zu distanzieren, richteten sie Mitte September eine Botschaft an die «Lieben muslimischen Freunde». Die Arbeitsgruppe «Islam» (AGI) der Schweizer Bischofskonferenz betonte: «Es ist uns ein wichtiges Anliegen, heute diese Botschaft an Sie zu richten (…). Die dramatische Situation in verschiedenen Ländern im östlichen Mittelmeerraum drängt uns zu dieser Botschaft. Die in erster Linie betroffenen Opfer des Terrorismus in dieser Region sind die Muslime. Viele unter ihnen sind und bleiben solidarisch mit den Landsleuten, welche einer anderen Religion angehören. Sie alle – ob Christen, Muslime oder Andersgläubige – leiden unter den Blutbädern und Gewalttaten, die sie dazu zwingen, ihr Land und ihre zerstörten Häuser zu verlassen.»
Die AGI drückt «tiefen Schmerz» und «entschiedene Ablehnung solcher Handlungen» aus und zeigt sich «über die Zerstörung des zum Teil tausendjährigen historischen, kulturellen und religiösen Erbes in Syrien und Irak schockiert». Es bestehe die Gefahr, dass der Islamische Staat mit dem Islam gleichgesetzt werde und die Angst «vor dem Anderen» schürt. «Die AGI ist fest davon überzeugt, dass Sie als Gläubige einer Religion der Mitte für einen aufrichtigen Dialog und eine verbindliche Zusammenarbeit offen sind und bleiben, um einen Beitrag zum friedlichen Zusammensein in einer offenen Gesellschaft zu leisten – etwas, was im Nahen und Mittleren Osten so sehnlichst gewünscht wird.»
Für die Flüchtlinge eintreten
Nach offiziellen Angaben der Uno sind allein in Syrien 200 000 Tote zu beklagen – wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Die UN beklagte zudem lange eine «internationale Lähmung», die Mörder und Folterer ermutige. Neun Millionen Menschen sind auf der Flucht. Um den 10. September 2014 lebten nach Angaben des Bürgermeisters 1,7 Millionen Flüchtlinge, die vor dem IS geflüchtet sind, in Erbil. Die UN versorgt eine halbe Million. Und: Erst Bilder von Flüchtlingen in den Bergen ohne Wasser und Nahrung machten Druck auf Regierungen. Filme von Journalisten aus Helikoptern, die Lebensmittel abwarfen und auf dem Rückweg Kinder und alte Menschen mitnahmen, verstärkten diesen und führten dazu, dass Regierungen nun handeln. Neben den Christen flüchten Jesiden, Aleviten und andere Minderheiten. Dazu steht der Winter vor der Tür. Die Situation verschärft sich weiter. Die Vertriebenen flüchten teilweise übers Mittelmeer. In Europa leben immer mehr Flüchtlinge aus Syrien; die in der Schweiz Lebenden schätzt der Pater zur Zeit auf einige hundert. Die syrisch-orthodoxe Gemeinde hat zu einigen Kontakt. Die Anzahl der Flüchtlinge wird weiter massiv steigen. Hilfe – inklusive Geld – wird dringlich gebraucht.
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Einige Daten zu den Befragten
Pater Jacub* ist in der Türkei geboren. Er lebt seit 28 Jahren in der Schweiz und hat hier auch teilweise studiert.
M. K.* ist Kurde und Jeside, um die 50 Jahre alt. Er arbeitet in sozialen Einrichtungen. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Diana Adlun-Sezer ist 1989 in der Schweiz geboren, angehende Anwältin und lebt in Bern. Sie ist verheiratet und syrisch-orthodox.
Zur syrisch-orthodoxen Gemeinde in der Schweiz gehören 1500 Familien, vor allem in den Kantonen St. Gallen, Aargau sowie in der Zentralschweiz und im Tessin.
* Name geändert. Der Geistliche befürchtet Druck auf seine Verwandten im Mittleren Osten, ebenso die zweite Person.
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Medien und IS
Der IS benutzt die Medien geschickt: Bilder von Hinrichtungen von Geiseln verbreiten auch im Westen Angst, werben aber auch junge Männer (und Frauen) aus dem Westen an. Die Bilder der Kämpfer stammen praktisch durchgängig aus IS-Propaganda-Videos. In den Redaktionen wird zunehmend diskutiert, ob man die Videos/Bilder noch publizieren dürfe. Die sozialen Netzwerke Facebook, Twitter und Youtube versuchen wenig erfolgreich, die sadistischen Bilder einzudämmen.
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Hilfe
Caritas Schweiz leistet Nothilfe vor Ort. Die Glückskette unterstützt die Nothilfe-Projekte der Caritas.
Spenden auf Konto 60–7000–4, Vermerk Irak oder Syrien.