Ausloten

Kürzlich hat Generalvikar Markus Thürig für «einmitten» plädiert. Er ergänzt nun seine Überlegungen mit «ausloten».

Einmitten und ausloten sind Geschwister. Wer die Ränder kennt, kann die Mitte suchen. Es ist wie ein- und ausatmen, aufnehmen und loslassen. Durch ihr Zusammenspiel lebt der Organismus. Gilt das auch für Kirchen, die sich der Vorläufigkeit ihrer irdischen Gestalt bewusst bleiben?

«Ausloten» heisst bestimmen, erkennen, herausfinden, orten, durchforschen, ergründen, erkunden, sondieren, sich umhören, abklopfen, sich schlaumachen. An Übergängen begegnet man Menschen, die ihrer Zeit voraus waren.

Ich denke an den Völkerapostel Paulus, der Juden und Heiden in Christus versöhnt sah und dadurch die wohl grösste missionarische Dynamik im Christentum auslöste. Augustinus arbeitete sich biographisch an Sünde und Schuld ab und brachte den gnädigen Gott ins Gespräch. Hildegard von Bingen schaute die Zusammenhänge von Welt-, Mensch- und Gottesbild, die im Innersten aufeinander bezogen sind, und prägte so eine ganzheitliche Sicht auf die Schöpfung. Franz von Assisi durchschaute Scheinwelten, die Politik und Ökonomie vorgaukeln können, und erlebte in der Umarmung eines Aussätzigen die Geschwisterlichkeit aller Menschen im Armsein der conditio humana. Angela Merici erkannte in der Bildung der Kinder den nachhaltigen Beitrag für ein gutes Leben und gründete dafür eine Gemeinschaft von Frauen, die nach den evangelischen Räten lebten, aber nicht in der Klausur eines Klosters. Madeleine Delbrêl fand sich, gereift an den sozialen Nöten ihrer Zeit, als christliche Kämpferin für mehr Gerechtigkeit an der Seite von Atheisten und wurde so zur christlichen Zeugin in entchristlichten Milieus.
Diese Menschen haben ausgelotet. Sie haben dafür auch persönliche Anfeindung und Leid auf sich genommen.

«Ausloten» und «einmitten» allein bringen noch keine Früchte. Dazu braucht es Kommunikation, den Austausch über gemachte Erfahrungen, das Einfügen neuer Buchstaben ins bestehende Alphabet. «Behüter» haben das Erreichte im Blick, «Späher» das Potenzial. Die Letzteren überleben, wenn sie rückgebunden bleiben an ihre Basisstation; erstere, wenn sie Blutauffrischungen zulassen. Im Geschwisterpaar ausgedrückt: «einmitten» und «ausloten». Diese beiden Dynamiken zusammenzuhalten, erkenne ich als eine wichtige Aufgabe. Welches Lot könnte da aufrechtes Bauen garantieren?

Mit dem Lot bestimmt die Maurerin die Senkrechte. Das Lot, ein Metallkegel an einer Schnur, braucht die Gravitationskraft. Sie lässt das Lot in der Senkrechten fallen, so dass die Mauer daran ausgerichtet werden kann. «Gravitationskräfte» der Menschen heissen Ängste, Absichten, Prägungen, Erwartungen. Manches Streitgespräch zwischen «Behüterinnen» und «Späherinnen» könnte besser laufen, wenn zuerst die «Gravitationskräfte» offengelegt würden.

Markus Thürig


Markus Thürig

Dr. Markus U. Thürig (Jg. 1958) ist seit 2011 Generalvikar des Bistums Basel und Präsident der Herausgeberkommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und Präsident des Bildungsrates der DOK.