Bilder des Bösen

In den Zeitungen oder im Internet sehen wir jeden Tag Bilder, die uns die Auswirkungen von bösen Taten vor Augen führen. In der Kunst wird dagegen das Böse ganz bewusst und ohne äusseren Anlass ins Bild gebracht.

Details aus der "Versuchung des heiligen Antonius" auf einem Flügel des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald (Colmar). (Bild: Wikimedia)

 

Nach dem Anschlag von 9/11 gingen Bilder um die Welt, auf denen man im Rauch, der aus den brennenden Türmen aufstieg, deutlich eine Teufelsfratze erkennen konnte. Wo Menschen mit dem Bösen konfrontiert sind, versuchen sie, diesem ein Gesicht zu geben. So kommt es zu den vielen Bildern des Bösen, von denen ich hier ein paar vergegenwärtigen will. Uns interessiert, wie sie uns das Böse zeigen, was sie über das Böse aussagen und wie wir uns zu diesen Bildern verhalten sollen.

Verkörperungen des Bösen

Das Böse begegnet uns in Bildern in ganz unterschiedlicher Gestalt. Ich sehe vor mir Bilder der Schlange, die das erste Menschenpaar dazu verführt, von den Früchten am Baum der Erkenntnis zu essen. Ich denke an eine Darstellung der Geschichte des Besessenen von Gerasa, aus dessen Mund der unreine Geist in Gestalt von geflügelten braunen Teufelchen entweicht. Ich erinnere mich an ein Bild des heiligen Franziskus, der die Dämonen aus Arezzo vertreibt. Giotto malte die Dämonen als Zwitterwesen mit menschlichen Fratzengesichtern, pelzigen Körpern, Raubvogelfüssen und Fledermausflügeln.

Ich denke an Grünewalds Darstellung der Versuchung des heiligen Antonius auf einem der Flügel seines Isenheimer Altars. Die Dämonen, die den Heiligen bedrängen, sind Fantasiewesen, eine bunte Mischung und Kombination aus Ziegenbock, Raubvogel, Walfisch, Hund, Kröte und einem Pestkranken. Von diesen Hybridwesen geht eine grosse Faszination aus. Ich jedenfalls kann mich an ihnen kaum sattsehen. Die Lust am Bösen, die ich vor diesem Bild empfinde, hängt damit zusammen, dass ich als Betrachter von der Pein, der Antonius ausgesetzt ist, nicht direkt betroffen bin. Vermutlich auch damit, dass die scheusslichen Wesen letztlich auch Antonius gegenüber machtlos sind.

Ich sehe vor mir Flugblätter der Reformationszeit. Eines, das von der Partei der Altgläubigen veröffentlicht wurde, zeigt Martin Luther mit sieben Köpfen, die ihn als Doktor, Mönch, Junker, Pfarrer, Schwärmer, Visitierer und Barrabas kennzeichnen – eine Art moderne Hydra. Ein anderes Flugblatt stammt von der Gegenpartei: Es zeigt unter anderem eine Gruppe von Klerikern, die dem Papst huldigen, der, in der Rolle der babylonischen Hure und somit als Verkörperung des Bösen, auf einem siebenköpfigen Drachen reitet.

Ich denke an Luca Signorellis Darstellung des Antichristen, der als Prediger in Gestalt Jesu auftritt, dem ein hinter ihm stehender Teufel falsche Worte ins Ohr flüstert. Ich sehe vor mir Bilder von Goya, etwa seine Radierung mit dem Titel «Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer». Sie zeigt einen am Zeichentisch eingeschlafenen Künstler, der von dunklen Gestalten, Eulen, Fledermäusen und einer Raubkatze bedrängt wird. Eine andere Radierung von ihm zeigt zwei bockfüssige Menschen mit Eselsohren, die in ihrer Dummheit ein frommes Gelübde ablegen, das ihnen von zwei Inquisitoren, ebenfalls mit Eselsohren, abverlangt wird. Oder ich erinnere mich an das Blatt aus der Radierfolge der «Schrecken des Krieges», das einen Soldaten darstellt, der einen gefesselten nackten Gegner mit dem Schwert im Schritt zweiteilt. Dazu die Bemerkung: «Was kann man mehr tun?»

Ich denke an Turners Bild eines Zuges, der über eine Brücke braust, gezogen von einer Dampflokomotive, die, einem Ungetüm gleich, nichts Gutes verspricht. Ich sehe vor mir das Bild einer niederdonnernden Lawine, die Häuser und Menschen unter sich begräbt. Und ich stelle mir die Frage, warum Gott dies zulässt. Gleichzeitig bin ich fasziniert angesichts der Naturgewalt, die sich jeglicher menschlichen Kontrolle entzieht.

Ich erschauere ob der Szene aus dem Film «Schindlers Liste», in der ein Lagerkommandant als morgendliche Leibesertüchtigung vom Balkon seiner Villa aus eine zusammengebrochene alte Frau erschiesst. Ich denke an den Begriff der Achse des Bösen und versuche mir konkret vorzustellen, wie sich das Böse entlang dieser Achse manifestiert.

Natur des Bösen

Was erfahren wir aus der Art und Weise, wie das Böse in den erwähnten Bildern dargestellt ist, über dessen Natur? Was sagen die Drachen, die Teufelsgestalten, Hybridwesen, die Kriegshandlungen, das Dunkel der Nacht, die fauchende Lokomotive oder die Lawine über das Böse aus? Ich nenne, vor dem Hintergrund der soeben erinnerten Bilder, stichwortartig ein paar Aspekte: Das Böse ist verführerisch, faszinierend, süss und hinterlistig. Es ist besitzergreifend, quälend und krankmachend. Es ist fauchend und schreiend. Es ist abnorm, hässlich, unrein, ein Zwitterwesen. Es durchbricht die Ordnung. Es ist das Gegenteil des Guten. Es ist lasterhaft und gottesfern. Es ist bedrohlich und angstmachend. Es ist Unheil bringend, lebensverachtend, lebensvernichtend. Es ist dumm und falsch. Es liebt die Dunkelheit und scheut das Licht. Es ist sinnlos und zerbricht Sinn. Es ist Bedrohung durch das Nichts. Es haust im Unbewussten, ist diffus und unerklärlich. Es ist anders.

Durch die Bilder erfahren wir einiges über die Natur des Bösen. Allerdings wäre es fatal, wenn wir von den hier aufgelisteten Aspekten auf das Böse zurückschliessen würden. Nur weil in einem der oben vorgestellten Bilder ein hässliches Wesen das Böse verkörpert, ist es nicht zulässig, zu sagen, alles, was hässlich sei, sei böse. Ob etwas böse ist oder nicht, entscheidet nicht eine Eigenschaft allein – es kommt wesentlich auf den Kontext und die kulturellen Bedingungen an. Die Nacht, die uns Albträume beschert, em- pfinden wir als böse, die Nacht, die uns zur Ruhe kommen lässt, erleben wir als Segen.

Personifizierung des Bösen

Wenn ich bisher mit grosser Selbstverständlichkeit vom Bösen gesprochen habe, so sei zum Schluss die Frage erlaubt, ob es das überhaupt gibt: das Böse. Wäre es nicht angemessener, das Wort nur adjektivisch oder adverbial zu verwenden, indem von der bösen Schlange, der bösen Versuchung, dem bösen Glaubensgegner, der bösen Dummheit, dem bösen Krieg, der bösen Naturgewalt, der bösen Moderne, der bösen Lebensverachtung gesprochen wird bzw. davon, dass all dies böse sei?
Mit der Substantivierung des Bösen geht eine Personifizierung einher, die gefährlich sein kann. Gefährlich, weil sie zur Vorstellung einer diffusen und dunklen Macht führt, die von aussen in unser Leben eingreift. Der Schritt, dieser Macht – dem Bösen – den Namen Teufel zu geben, ist dann schnell getan. Das Böse erhält damit eine religiöse Dimension. Es wird zu etwas, das seinen Grund in der Gegnerschaft zu Gott hat, im Abfall von Gott, in der Sünde, in der Erbschuld, im Laster usw. Es kann auch passieren, dass Menschen die Ursache für das Böse dann bei sich selber suchen – Schuldgefühle sind die Folge. Es dürfte kein Zufall sein, dass in der Psychoanalyse deshalb lieber vom Schatten als vom Bösen gesprochen wird.

Bilder haben einen nicht geringen Anteil an der Personifizierung des Bösen, indem sie diesem eine Gestalt geben, es verkörpern. Das birgt Gefahren, ist aber nicht an sich schlecht. Es kann auch helfen, vorausgesetzt, dass wir den richtigen Umgang damit finden. Bösen Erfahrungen, dem, was uns ängstigt oder bedrängt, einen Namen zu geben, ein Bild dafür zu finden, kann ein wichtiges Instrument sein, um diese Erfahrungen zu überwinden. Bilder des Bösen können eine heilende Funktion haben, indem sie Schlimmes, Ungerechtes, Kränkendes, Lebensverachtendes vergegenwärtigen, sichtbar machen, ans Licht holen und damit bannen. Bilder können uns vom Bösen erlösen. Oder sie können zumindest helfen.

Johannes Stückelberger


Johannes Stückelberger

PD Dr. Johannes Stückelberger (Jg. 1958) ist Kunsthistoriker und Dozent für Religions- und Kirchenästhetik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern sowie Privatdozent für Neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel.