«Christsein ist ihr Lebensinhalt»

Ein Schweizer Unternehmer, der seit 20 Jahren im arabischen Raum und Nahen Osten lebt, berichtet der SKZ in einem Interview exklusiv von seinen Erfahrungen und der Situation der Christen in Ägypten.

Die koptische Kathedrale in Kairo wurde im August 2013 in Brand gesteckt. (Foto: zVg)

 

Anfang Jahr weihte der koptisch-orthodoxe Papst Tawadros II. in Anwesenheit des ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah Saeed Hussein Khalil al-Sisi in «New Cairo» die neue und auch grösste Kathedrale Ägyptens ein. Nach al-Sisi soll sie zusammen mit der nebenan stehenden Moschee ein Zeichen friedlicher Koexistenz von Muslimen und Christen in Ägypten sein. Die SKZ publizierte dazu einen Artikel in der Ausgabe 3/2018 vom 15. Februar.

Der katholische Unternehmer* ist seit 15 Jahren in Ägypten tätig und verlegte vor drei Jahren seinen Wohnsitz von Bahrain nach Kairo. Er ist vertraut mit dem Islam, seinen kulturellen und gesellschaftlichen Ausdrucksgestalten und kennt die Situation der Christen vor Ort aus nächster Nähe. Seine Erfahrungen und Kenntnisse geben einen tieferen Einblick in die örtliche Situation.

Vor grossen Herausforderungen

Das Land am Nil weist ein sehr hohes Bevölkerungswachstum auf.1 Mit diesem vermag der Staat mit dem Ausbau entsprechender Infrastruktur (Schulen, Spitäler, Strassen usw.) nicht mitzuhalten. Darüber hinaus bremsen das allgemein tiefe Bildungsniveau und der über 25 Prozent liegende und laufend wachsende Anteil an Analphabeten die wirtschaftliche Entwicklung erheblich. Aus Sicht des Schweizer Unternehmers liegt ein Schlüssel zur langfristigen Lösung der grossen Probleme Ägyptens in einem höheren Ausbildungsstand aller Ägypter. Aber in diesem Land gibt es erstens keine allgemeine Schulpflicht und zweitens basieren die staatlichen Schulen auf dem Koran. Private Schulen, die sich an wissenschaftlichen Grundsätzen orientieren, sind teuer und bleiben einer kleinen Oberschicht vorbehalten. Dies führt unaufhaltsam zu einer weiteren Verarmung der Bevölkerung. In dieser Situation suchen die Menschen Halt in der Religion, was zu Radikalisierungen führen kann. Für die Misere werden Gründe gesucht und auch gefunden: Die Schuld wird der Regierung zugewiesen.

Die Menschen gingen nach der missglückten Revolution 2013 ein zweites Mal auf die Strassen, forderten den Rücktritt des gewählten Präsidenten Mohammed Mursi und baten die Armee, einzugreifen. Diese setzte einen administrativen Präsidenten ein und führte das Land zu Neuwahlen. Hätte die Armee, der sogenannte Staat im Staat, nicht gehandelt, wäre aus Sicht des Schweizers Ägypten im Chaos versunken wie der Irak und Syrien, mit katastrophalen Folgen für die fünf bis acht Millionen Christen im Land. Seitdem regiert al-Sisi Ägypten, im Frühjahr 2018 wurde er wiedergewählt. Seine Präsidentschaft wird durch das Militär und den inneren Sicherheitsapparat gestützt. Diese gehen auch repressiv vor (z. B. Menschenrechtsverletzungen), was zu weiterer Radikalisierung der Bevölkerung und keineswegs aus der Spirale von Gewalt, Armut, hoher Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Misere führt.

Zwischen Unterdrückung und Renaissance

Die Christen machen rund 10 bis 15 Prozent der Gesamtbevölkerung Ägyptens aus. Die koptisch-orthodoxe Kirche stellt bei Weitem die grösste christliche Gruppe. Eine kleine Gruppe ist evangelisch, ein noch kleinerer Teil ist katholisch. Zu ihr zählen neben der koptisch-katholischen auch die römisch-katholische und die griechisch-katholische Kirche, ferner die Maroniten, die Melkiten, die Syrer, Armenier und Chaldäer, insgesamt sind es etwa 250 000 Katholiken.

Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts nahm nach einer Phase relativer Ruhe die Gewalt gegen die Christen wieder zu. Kirchen, Klöster und christliche Dörfer wurden angegriffen. Ab 2012 erfuhren die Christen zuerst mit der Wahl Mursis zum Präsidenten Ägyptens und nach seiner Absetzung eine noch stärkere Gewaltwelle. Auch in neuster Zeit sind Anschläge auf Kirchen zu verzeichnen, so z. B. der Doppelanschlag auf Kirchen in Alexandria und Tanta am Palmsonntag 2017 und der Anschlag auf einen Pilgerbus und die zu Hilfe eilenden Christen kurz vor dem Kloster Sankt Samuel in Al-Minya Kalamon am 26. Mai 2018, der 29 Tote, darunter auch Kinder, und Dutzende von Verletzten forderte.

Christen sind täglicher Gewalt, auch Hetzkampagnen und alltäglichen Diskriminierungen durch (fanatische) Muslime ausgesetzt sowie mit Entführungen junger Christinnen konfrontiert, die anschliessend zur Ehe mit einem muslimischen Mann gezwungen werden. Andererseits erleben die christlichen Kirchen, insbesondere die koptisch-orthodoxe Kirche, einschlägigen Medien zufolge eine Renaissance.


SKZ: Entspricht dies auch Ihrer Wahrnehmung?
NN: Ja, absolut! Viele Klöster füllen sich mit jungen Mönchen und Nonnen. Und an den meist über dreistündigen Gottesdiensten, oft in sehr einfach eingerichteten oder auch beschädigten Kirchen, nehmen ausnehmend viele, vor allem junge Menschen teil, trotz der Gefahren, denen sie sich dadurch aussetzen. Etliche Familie gehen angesichts möglicher Terroranschläge getrennt zum Gottesdienst, damit der überlebende Ehepartner für die Kinder sorgen kann. Aber nicht am Gottesdienst teilnehmen ist kein Thema.

Wie erklären Sie sich diese Renaissance?
Die Christen sind einer heftigen Diskriminierung ausgesetzt. Die Unterdrückung und das Leiden machen sie als Gemeinschaft und im Glauben stark. Die Leidensgeschichten der Märtyrer, welche in den letzten zehn Jahren wegen ihres standhaften Bekenntnisses zu Jesus Christus ermordet wurden, befeuern junge Menschen zum Gebet und zu einem christlichen Lebensstil. Die wirtschaftliche Misere trägt ebenfalls dazu bei, im Glauben Hoffnung und Halt zu suchen. Zudem verschiebt sich die Werteskala von nicht erschwinglichen Luxusgütern zu Werten wie Zusammenhalt, Gemeinschaft, Beten und Sorgen füreinander. Leiden ist so etwas wie Ehrensache. Wenn ich mit Christen über ihr Schicksal spreche, dann höre ich oft Bibelsprüche wie: «Wenn euch die Welt hasst, so wisst, dass sie mich vor euch gehasst hat» (Joh 15,18); «Haben sie mich verfolgt, so werden sie euch auch verfolgen» (Joh 15,20). Für die Christen in Ägypten gehört das Leiden seit der Islamisierung des Landes im 7. Jahrhundert bis heute wesentlich zu ihrem Christsein, und Christsein ist ihr Lebensinhalt. Die meisten koptisch-orthodoxen Christen, die ich kenne, haben als Bekenntnis zu Jesus Christus irgendwo auf ihrem Körper ein kleines Kreuz eintätowiert, viele von ihnen an gut sichtbaren Stellen.

Mit welchen konfessionellen Denominationen sind Sie in Kontakt?
Im Kairoer Stadtteil Heliopolis hat es im Umkreis von zwei Kilometern sechs Kirchen: eine koptisch-orthodoxe, griechisch-orthodoxe, römisch-katholische, maronitische, evangelische und eine Adventskirche. Ich besuchte alle, bin mit den meisten in regelmässigem Kontakt und spiele in einem kirchlichen Orchester mit. Als Christ fand ich sofort Zugang zu anderen Christen, gleich welcher Denomination. Das Leiden schweisst zusammen und es herrscht ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl. Ich habe schon über 60 Länder bereist, besuche jeweils regelmässig vor Ort die Kirchen und nehme spontan an Gottesdiensten teil, aber ich habe nirgends ein so starkes Gemeinschaftsgefühl erlebt wie in Ägypten.

Wie schätzen Sie die Einweihung der Kathedrale im Blick auf das Zusammenleben von Muslimen und Christen ein?
Der grosse Medienrummel rund um die Einweihung der Kathedrale und die Anwesenheit von al-Sisi weckten bei mir den Eindruck – und diesen teile ich mit vielen Christen –, dass es um eine reine PR-Show ging, die sich insbesondere an das Ausland richtete. Seine Präsenz bei der Einweihung hat für das Zusammenleben von Muslimen und Christen keinen Einfluss. Es wäre für die Christen viel zweckmässiger und entspricht auch ihren Wünschen, in den dicht besiedelten Regionen Arish oder Al-Minya eine Kathedrale zu bauen. Dies ist aber wegen des grossen Widerstands der dortigen Muslime nicht möglich. Aus diesem Grund baute man die Kathedrale in der Wüste, wo keine Proteste vonseiten der Muslime zu erwarten sind, aber auch keine Christen wohnen.

Bau und Einweihung der neuen Kathedrale erscheinen in Ihren Worten wie eine Farce. Was wäre aus Ihrer Sicht ein Hoffnungszeichen für Christen?
Der Präsident könnte mit einem öffentlichen Stopp der vielen Kirchenschliessungen ein grosses Zeichen setzen. Tatsache ist, dass laufend Kirchen geschlossen sowie geschändet werden. Ebenfalls sollten im ganzen Land beschädigte Kirchen repariert und neue ohne gesetzliche Einschränkungen bewilligt und gebaut werden dürfen. Und natürlich wäre es ein grosses Hoffnungszeichen für die koptischen Christen, wenn alle Bürger Ägyptens vor dem Gesetz gleichgestellt sind, das ist zurzeit nicht der Fall. Das islamische Recht schreibt geradezu eine Zweiklassengesellschaft von Gläubigen und Ungläubigen vor; nach ihm haben Ungläubige in letzter Konsequenz keine Rechte.

Wie kommt es, dass viele Kirchen geschlossen werden?
Als Reaktion auf Beschädigungen von Kirchen und verletzende oder gar tödliche Angriffe auf Christen durch fanatische Muslime schliessen die Behörden aus Sicherheitsgründen die Kirchen. Die Täter werden aber nicht zur Rechenschaft gezogen und schänden deshalb weiter Kirchen oder üben Anschläge auf Christen aus.

Welchen alltäglichen Diskriminierungen sind Christen ausgesetzt?
Die Ungleichbehandlung der Christen betrifft viele Lebensbereiche. Christliche Kinder bekommen an öffentlichen Schulen mitunter schlechtere Noten als die muslimischen. Christliche Mädchen werden gezwungen, Kopftücher zu tragen. Universitäten halten Prüfungen regelmässig an hohen christlichen Feiertagen ab – etwa an Heiligabend oder an Ostern. An den Gerichten sind Christen nicht als Zeugen zugelassen, weil sie als «Ungläubige» gelten und ihre Aussage vor dem islamischen Recht keine Gültigkeit hat.
Aber andererseits sind Christen sehr gefragte Mitarbeiter, und zwar weil sie ehrlich, fleissig, pflichtbewusst, umgänglich und in der Regel gut ausgebildet sind. In vielen Firmen sind sie als Kassier oder Finanzverwalter anzutreffen. Ich habe kürzlich einem muslimischen Personalchef zugehört: «Für diesen Job sollten wir einen Christen einstellen.» Es ging um eine leitende Stelle bei einem Reiseveranstalter. Die Schattenseite: Als sozusagen rechtlose Bürger sind sie sehr bestrebt, korrekt zu arbeiten. Fehler können sie sich keine leisten. Neben der guten Ausbildung sind es die oben genannten Werte, die von den Muslimen geschätzt werden. Aus diesem Grund ist es für Christen einfacher, eine Stelle zu finden. Es gibt keine Statistiken, ich bin mir aber sicher, dass die Arbeitslosenquote bei den Christen tiefer liegt als bei den Muslimen. Jedenfalls kenne ich in meinem persönlichen Umfeld keinen einzigen Christen, der ohne Arbeit ist, jedoch sehr viele, vor allem junge Muslime.

Erfahren Sie als ausländischer christlicher Unternehmer Diskriminierungen?
Anfangs wohnte ich in Kairo in einem sogenannten muslimischen Slum. An einer Wand hing in meiner Wohnung ein Rosenkranz, den die muslimische Putzfrau regelmässig entfernte, vernichtete und an seiner Stelle islamische Symbole anbrachte. Ich wiederum nahm diese Symbole von der Wand und hängte einen neuen Rosenkranz und auch ein Kreuz auf. Später wurde ich richtiggehend observiert: Die Frau kam plötzlich täglich statt wöchentlich putzen. Als ich für einen Freund, er ist Mönch, Sakralgegenstände besorgt hatte und diese in der Wohnung auf dem Tisch liegen liess, wurde meine Wohnung angezündet.

Wie verhalten sich die Christen gegenüber Gewalt und Diskriminierung?
Diskriminierung und Gewalt sind Teil des alltäglichen Lebens. Die Christen widersetzen sich bis zum heutigen Tag der Konvertierung und der Islamisierung ihres Landes und kämpfen gewaltlos für ihren Glauben. Die koptisch-orthodoxe Kirche ist bis heute eine Märtyrerkirche und bringt jedes Jahr neue Märtyrer hervor, die es vorziehen, für ihren Glauben zu sterben als zum Islam zu konvertieren. Allein in den letzten zwei Jahren gab es aus diesem Grund über 50 neue Märtyrer.

Wo liegen aus Ihrer Sicht Lösungsansätze für ein friedliches Zusammenleben?
Ein erster wichtiger Schritt für ein gutes Zusammenleben sehe ich in der Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz. Es gibt wohl Gesetze, welche die Christen schützen, diese werden aber nicht angewandt. Die Gleichstellung hätte zur Konsequenz, dass muslimische Bürger für Kirchenschändungen und Gewaltverbrechen gegen Christen strafrechtlich belangt würden, was jetzt nicht oder nur bedingt der Fall ist. Aber noch wichtiger wäre eine Trennung von Religion und Staat. Auch Papst Tawadros II. spricht sich für eine solche Trennung aus.

Gibt es interreligiöse Dialoge zwischen Muslimen und Christen?
Auf freiwilliger Basis gibt es keine. Natürlich leben die Menschen in den Dörfern und Quartieren zusammen und arrangieren sich bei der Arbeit. Bei religiösen Festen werden gegenseitig Glückwünsche überbracht. Es gibt auch Freundschaften zwischen Christen und Muslimen. Aber das Thema Religion wird wie eine heisse Kartoffel selten angefasst. Es bleibt eine Kluft zwischen ihnen bestehen. Ein Beispiel: Nach dem Bombenanschlag auf die Kirche in Tanta, bei dem 32 Menschen starben, sprach ich mit Dutzenden von meinen muslimischen Freunden. Sie alle hatten tröstende Worte, aber kein einziger verurteilte den Anschlag. Es kam immer dieses «Aber», mit einem Funken Verständnis für den Attentäter.

Im März 2017 war Papst Franziskus in Ägypten zu Besuch. Wie ist dieser Besuch heute zu werten?
Der Besuch war eine schöne Geste, die Christen freuten sich sehr und schöpften auch Hoffnung, aber geändert hat sich an ihrer Situation natürlich nichts. Die Begegnungen mit al-Sisi und dem Grossscheich der Al-Azhar-Universität Ahmad Mohammad Al-Tayyeb waren aus meiner Sicht – und diese teile ich mit vielen Christen – inszeniert, um der ausländischen Öffentlichkeit zu zeigen, wie friedlich Muslime und Christen in Ägypten zusammenleben. Ich habe Ihre Frage mir bekannten Christen gestellt. Jemand antwortete mit einem Vergleich: «Der Besuch von Papst Franziskus nahm ich so wahr, wie wenn Familienmitglieder ihre Angehörigen im Gefängnis besuchen. Die Häftlinge freuen sich sehr, aber das ändert nichts an den Haftbedingungen und am Strafmass. Selbstverständlich freut sich auch der Gefängnisdirektor, wenn in der Presse positiv berichtet wird, wie gut es den Häftlingen geht. Gleichzeitig ist es aber sowohl für die Häftlinge als auch für den Gefängnisdirektor klar, dass sich nach dem Besuchstag nichts ändern wird. Eine solche Frage kann nur vom Ausland stammen und beweist, dass die inszenierten Begegnungen gewirkt haben.»

Interview: Maria Hässig

 

1 Die Bevölkerung in Ägypten nimmt jährlich um zwei Prozent zu. In den Jahren 1960 bis 2016 stieg die Bevölkerungszahl von 27 auf 95,69 Mio. Menschen an, was einer Wachstumsrate von 254,4 Prozent in 56 Jahren entspricht.

 

*

Aus Sicherheitsgründen wird der Name des Interviewpartners nicht genannt. Er ist der Redaktion bekannt.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente