Noch weithin unbekannte Nachbarn

Das weltweite Christentum erlebt gegenwärtig geradezu tektonisch zu nennende Umbrüche (Ausgabe 17/2018). Diese zeigen sich durch die Migration aus dem globalen Süden auch in der Schweiz.

Im 20. Jahrhundert avanciert das Christentum erstmals zu einer universal präsenten Religion. Zu seinen Triebfedern zählen ein südverlagertes Christentum wie auch eine zunehmende ökumenische Komplexität, die sich vor allem im Aufschwung der breit zerklüfteten Pfingstbewegung zeigt. Zugleich aber ist das gegenwärtige Christentum derart polyzentrisch und multidirektional, derart heterogen und disparat ausgerichtet wie niemals zuvor in seiner Geschichte. Solche Transformationsdynamiken des Christentums nehmen in der postkolonialen Ära Fahrt auf. Parallel dazu und gerade in solch geopolitischer Hinsicht wächst auch Migration zu einem Schlüsselthema seit Mitte des 20. Jahrhunderts heran, in sozialwissenschaftlicher Diktion als das «Zeitalter der Migration» bezeichnet.

Mehrheitlich christliche Migranten

Bemerkenswerterweise war die Kenntnis religiöser Identitäten von migrierenden Menschen bis vor Kurzem eher grobschlächtig. Globale Daten über die religiöse Zusammensetzung internationaler Migration sind erst seit 2010 differenzierter erfasst. Daraus geht hervor, dass sich nahezu die Hälfte aller Migranten weltweit als Christen definiert, während Muslime mit etwa einem Viertel- anteil den nächstgrösseren Block bilden. Die Schweizer Daten bestätigen wesentliche geo- statistische Trends, zeigen aber (mit annähernd 60 %) eine noch höhere christliche Präsenz unter Menschen mit Migrationshintergrund auf und entgegen der weithin eingeübten Berichterstattung einen (mit ca. 13%) deutlich geringeren prozentualen Anteil an Muslimen. Die Unschärfe dieser Bestandsaufnahmen liegt darin, dass diese geografische Herkunftsregionen von Migranten ungenügend erfassen. Festzuhalten bleibt, dass die in die Schweiz einwandernden Migranten vorwiegend christlicher Prägung sind.

600 Migrationskirchen in der Schweiz

Wie schlägt sich dieses Tableau einer gleichzeitigen Umschichtung des globalen Christentums wie das enorme Anschwellen von globalen Migrationsbewegungen auf die Schweiz nieder? Missions- und kirchengeschichtlich zählt Migration grundsätzlich zu den vornehmlichen Ausbreitungsfaktoren des Christentums, speziell von protestantischen Konfessionsfamilien. Seit etwa einer Generation verändert sich das hiesige Religions- und Kirchenrelief merklich. Es lassen sich drei Grosstrends ausmachen, die ein postsäkulares Format erkennen lassen: neben der Religionspluralisierung, auf die ich hier ebenso wenig wie auf die Stabilisierung des Anteils religiös ungebundener Menschen eingehe, differenziert sich das Christentum enorm aus. Die variantenreiche Szene des weltweit boomenden Christentums lagert sich lokal in Form einer erstaunlichen Kirchengründungsphase ab. Genauer besehen, ereignet sich diese Kirchenwachstumsbewegung seit Beginn der 1990er-Jahre in den Sektoren der allseits so benannten neuen Migrationskirchen. Unter den inzwischen um die 600 Migrationskirchen in der Schweiz ist der quantitativ stärkste Anteil charismatisch-pentekostaler Prägung.

Doch an dieser Stelle sei ein kirchensoziologisch sensibilisierter Zwischenruf angemahnt: Die Begriffsverwendung von Migrationskirchen übergeht im Prinzip die Selbstbezeichnung dieser Kirchen, die sich entweder durch repräsentative konfessionelle (z.B. methodistisch) oder adjektivische Zuschreibungen wie «international» oder «universal» als autonome Grössen der weltweiten Kirche zu erkennen geben. Daher unterliegt ihre Fremdbezeichnung als Migrationskirchen der Gefahr, ihre empirische Vielfalt einzuebnen, wenn nicht gar sie als Fremdkörper und eben nicht als integralen Bestandteil der schweizerischen Kirchenlandschaft zu identifizieren.

Wertvoll ist der strittige Migrationskirchenbegriff, da er im Zeitalter der Migration auf Strukturveränderungen im weltweiten Christentum aufmerksam macht und den Sinn für globalchristliche Verflechtungen wie für die neuartige Komplexität lokaler Kirchenreliefs schärft. Insofern liessen sich unter Migrationskirchen solche kirchlichen Sozialgestalten fassen, die von Menschen mit Migrationshintergrund gegründet oder geleitet werden und mehrheitlich Migranten als Mitglieder zählen. Diese bringen Theologien, Themen, Diskurse und Praktiken des religiösen Alltags ein, die sich vielfach kirchlichen Kontexten des globalen Südens verdanken.

Wer sich mit Migrationskirchen in der Schweiz befasst, stösst andeutungsweise auf transnationale Kommunikationsräume, internationale wie regionale Vernetzungskulturen wie auf lokalökumenische, vorwiegend urbane Kontaktzonen. Unter der Vielgestalt an Gemeinschaftsformen finden sich insbesondere unter den lokalen Ablegern von überkonfessionellen Megakirchen ausgefeilte «E-Church»-Konzepte, also auf elektronische, neue soziale Medien fokussierte Online-Kirchen. Während einige Migrationskirchen Spaltungskonflikte durchleben, befinden sich andere in einer postmigratorischen Phase, die sich bereits durch relative organisatorische Stabilität auszeichnet. Insgesamt besehen verfügen Migrationskirchen über personelle Ressourcen eher jüngerer Generationen.

Unsichtbare Akteure

Tiefere Einblicke in hiesige migrationskirchliche Binnenräume sind noch rar. Vielfach ist «von weithin unbekannten Nachbarn» zu sprechen, doch handelt es sich aus ökumenischer Perspektive um «unsichtbare Akteure»1. Migrationskirchen bilden tatsächlich vielfache «selektive ökumenische Konnektivitäten» aus und flechten an verschiedenartigen Netzwerken mit.2 In Schattenrissen sei hier auf ein Konversionsphänomen hingewiesen, das sich insbesondere hinsichtlich pentekostal ausgerichteter Migrationskirchen beobachten lässt. Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass die überwiegende Mehrheit der Mitglieder einer solchen Migrationskirche über Konversionsbiografien verfügen, die sich im Prozess der Migration ausbilden. Dies kann sich als Religionswechsel im eigentlichen Sinn etwa vom Islam (im Falle iranischer Migranten) oder Hinduismus (im Falle von sri-lankischen Migrations- kirchen) zum Christentum genauso niederschlagen wie auch in konfessionellen Neuorientierungen, wenn ehemalige Presbyterianer oder Katholiken in einer pentekostalen Migrationskirche eine neue geistliche Heimat finden. Solch hohe integrative Kapazität von pentekostalen Migrationskirchen ist an sich bemerkenswert, bezieht sich zumeist jedoch auf Menschen ähnlichen kulturellen und sprachlichen Kolorits.

Eritreische Christen spalten sich in der Schweiz in klar getrennte Kirchenlager auf, die die diktatorische Religionspolitik Eritreas abbilden. Offizielle Anerkennung geniessen in Eritrea allein die eritreisch-orthodoxe Kirche, die (dort marginale) römisch-katholische und die lutherische Kirche. Andere Traditionen unterliegen strengen Repressionen. Während die orthodoxe Mehrheitskirche unter Eritreern in der Schweiz durch heftige Hierarchiekonflikte erschüttert wird, entwickelt sich die pentekostal-charismatisch geprägte Living God gerade auch durch Konversionswachstum. Im Verbund der eritreischen Living-God-Gemeinden in der Schweiz kommt ein Mix vor allem aus evangelischen Christen lutherischer, baptistischer, methodistischer und pentekostal-charismatischer Herkunft aus Eritrea und Äthiopien zusammen. Als die Kirche vor etwa zehn Jahren in der Schweiz gegründet wurde, bestand sie aus einer Einzelgemeinde, die sich in nunmehr neun Lokalgemeinden mit jeweils eigener Administration aufgliedert.

Die Frömmigkeitskultur pentekostaler Migrationskirchen fördert die Konversionsbereitschaft in der Migration durch einige Schlüsselcodes wie «Durchbruch jetzt», «Ermächtigung» oder «Loslösung von Vergangenheit», um ihren Mitgliedern das Gefühl einer Kontrolle über prekäre Lebensumstände zuzusichern. Es mögen dies ungewohnte und auch rituell ungewöhnlich umgesetzte Ausdrucksformen kirchlichen Lebens sein. Und doch stellt sich die ökumenisch inspirierte Frage, wie die klassischen Kirchenformen in der Schweiz und die neue ökumenische Konstellation miteinander ins Spiel kommen. Herkömmliche Formen ökumenischer Begegnung scheinen mir erschöpft.

Global Christian Forum lokal

Ein Neuansatz könnte von der Übertragung des Global Christian Forum auf die lokale Ebene ausgehen. Das Global Christian Forum (GCF), gegründet 2007 im weiteren Umfeld des ÖRK, sieht Ökumene als Forum der vielen Kirchen in all ihrer Vielgestaltigkeit mit der Möglichkeit des Erfahrungsaustauschs. Zu seinen Prinzipien gehören geringe Institutionalisierung, gleichberechtigte Teilnahme auf Augenhöhe und auch narrative Zugänge zu Glauben und Traditionsbeständen. Die ökumenische Neugestaltung der Co-Präsenz des weltweiten Christentums ersetzt nicht die engagierte Ökumene, die sich über Jahre aufgebaut hat, aber ergänzt sie. In den zwischenzeitlich mehrfach durchgeführten Treffen des GCF hat sich bereits eine erstaunliche Erweiterung der ökumenischen Reichweite ergeben, die Pfingstkirchen und auch Megakirchen einschliesst. Könnte die Forumsidee ihre Initiativkraft auch angesichts der gleichzeitigen Pluralisierung von Kirchen und einer unübersichtlichen Kirchengründungsphase in der Schweiz freisetzen? Erste Beispiele eines gestärkten Lokalbezugs des GCF weisen in diese Richtung. Aber noch ist die Idee, das GCF auf die lokale Ebene zu bringen, nicht ausgereift: Wer initiiert ein Local Christian Forum, zu welchen Einstiegsthemen und wer sollte daran teilnehmen?

Andreas Heuser

 

1 Heuser, Andreas, Weithin unbekannte Nachbarn, in: HerKorr 4/2007, 212–215.

2 Ebd.; vgl. Heuser, Andreas; Hoffmann, Claudia, Afrikanische Migrationskirchen und ihre selektive ökumenische Konnektivität, in: Pastoraltheologie 107 (2018), 293–306.


Andreas Heuser

Prof. Dr. Andreas Heuser (Jg. 1961) studierte Theologie und Politikwissenschaft und ist seit 2012 Professor für Aussereuropäisches Christentum an der Universität Basel.