«Sie bewegen sich in losen Netzwerken»

Die Migration von Afrikanern in die Schweiz ist ein Phänomen jüngeren Datums. Sie nahm in den letzten 20 bis 30 Jahren zu. Marco Schmid und Serge Agbodjan-Prince erzählen über die damit verbundenen Probleme, geben Einschätzungen ab und zeigen Lösungsansätze auf.

Interview mit Marco Schmid (l.) und Serge Agbodjan-Prince. (Fotos: Schmid: zvg; Agbodjan-Prince: "Zeitung der römisch-katholischen Pfarreien des Kantons Bern", Pia Neuenschwander)

 

Im Jahr 2017 lebten rund 59'000 ständig residierende Afrikaner aus subsaharischen Ländern in der Schweiz. Die Asylsuchenden sind nicht miteingerechnet. Die Zunahme von 2016 zu 2017 von ständig residierenden Afrikanern beträgt fast 3 Prozent, in Zahlen ausgedrückt rund 4000 Personen. Auf die einzelnen Bistümer heruntergebrochen gab es im Bistum Basel einen Zuwachs um 34, im Bistum Chur um 18,5, im Bistum St. Gallen um 4,9, im Bistum Sitten um 2,8, im Bistum Lausanne, Genf, Freiburg um 38,1 und im Bistum Lugano um 1,6 Prozent innert Jahresfrist.1

Der Afrika Diaspora Rat Schweiz (ADRS) geht von über 100'000 Afrikanern aus, wobei hier die Migranten aus Nordafrika einberechnet sind. Sie leben vornehmlich in der Westschweiz, aber auch in Städten wie Basel, Bern, Biel, Zürich usw.2 Die meisten stammen aus Nordafrika und Eritrea, viele kommen auch aus der Demokratischen Republik Kongo, aus Nigeria und Kamerun. Alle Länder Afrikas sind in der Schweiz vertreten. Die afrikanischen Migranten weisen unterschiedliche kulturelle, sprachliche und religiöse Zugehörigkeiten auf. Bei der Integration können Religionsgemeinschaften eine wichtige Rolle einnehmen. Dieser Aufgabe gilt es nachzukommen.

 

SKZ: Wie sind die afrikanischen Christen römisch-katholischer Denomination in der Schweiz organisiert?

Marco Schmid (MS)1: Es ist zwischen Christen aus Eritrea und jenen aus anderen subsaharischen Ländern zu unterscheiden. Jene aus Eritrea sind viel besser organisiert als die anderen, weil sie zum einen kulturell eine homogene Gruppe bilden und zum anderen gegenüber Migranten aus anderen afrikanischen Ländern in grosser Zahl einwandern. Sie haben zudem einen Priester, der von Migratio der Schweizerischen Bischofskonferenz finanziert wird und in allen seelsorgerlichen Belangen für sie da ist. Die anderen bewegen sich in losen Netzwerken. Manchmal bildet sich um einen afrikanischen, in einer Pfarrei tätigen Priester ein solches, national oder ethnisch gebundenes Netz. Sie feiern aber meistens nicht regelmässig Gottesdienst zusammen, sondern nur an hohen Feiertagen. Bei einem Todesfall wird punktuell der aus ihrem Land stammende Priester kontaktiert. Von einer Missionsgemeinde analog zur missio catholica italiana und anderen Missionsgemeinden kann bei weitem (noch) nicht die Rede sein.

Serge Agbodjan-Prince (SAP)2: Die meisten Afrikaner nehmen – so wie ich zum Beispiel – an den englisch- oder französischsprachigen Gottesdiensten vor Ort teil. Beispielsweise treffen sich die Englischsprachigen in der Bruderklausen Kirche und die Französischsprachigen in der Dreifaltigkeitskirche in Bern. Aber die Teilnahme an diesen Gottesdiensten ist auch eine Frage des sozialen Stands. Es sind vor allem ständig Residierende, die in diesen Gottesdiensten anzutreffen sind. Sie haben eine berufliche Anstellung und ihre Kinder gehen zur Schule. Asylsuchende sucht man vergeblich.

MS: Die soziale Teilung zeigt sich z B. auch in Basel: Die Asylsuchenden nehmen an der englischsprachigen Gruppe im Rahmen des Pfarreilebens in St.Josef teil, die anderen in der Englisch Speaking Mission in der Bruder Klaus Kirche, wo auch viele internationale Mitarbeiter der Pharmaindustrie anzutreffen sind.


Gibt es weitere Begegnungsorte?

MS: Eine weitere wichtige Plattform für Gemeinschaft, Austausch und Vernetzung bilden meines Erachtens die afrikanischen Chöre, von denen es ungefähr zehn bis fünfzehn mit katholischem Hintergrund in der Schweiz gibt. Und hier findet über das soziale Netzwerk und die Erfahrung von Gemeinschaft auch Seelsorge statt.

SAP: Ferner gibt es national bzw. ethnisch geprägte, soziale Vereine. Einige von ihnen richteten einen Fond ein. Die Mitglieder des Vereins zahlen monatlich einen Beitrag und jedes erhält reihum aus diesem Fond einen Zustupf. Andere Vereine unterstützen bei finanziellen Schwierigkeiten. Mit diesem Fond helfen sie sich einander in Notsituationen.

MS: Als wichtiger Ort der Begegnung und Gemeinschaft sind weiter die afrikanischen Wallfahrten nach St.Maurice, Einsiedeln und seit zwei Jahren auch nach Mariastein zu nennen. In diesem Jahr nahmen erfreulicherweise deutlich mehr an der Wallfahrt nach Einsiedeln teil, die ich koordiniere, als in den vorangegangenen Jahren.


Sie sprechen die verschiedenen Wallfahrten an. Sind Unterschiede in der Integration zwischen der West- und der Deutschschweiz auszumachen?

MS: In Freiburg i.Ue. fällt mir die Präsenz von Afrikanern in den öffentlichen Räumen auf. Das war vor einigen Jahren noch nicht in dieser Dichte der Fall, vor allem begegnen mir viele junge Afrikaner der Zweitgeneration, z.B. auf dem Weg vom Bahnhof zur Universität und zu den Fachhochschulen.

SAP: Als Afrikaner fühle ich mich in der Westschweiz mehr «zuhause», weil viele Afrikaner im öffentlichen Raum präsent sind und ich ihnen beispielsweise an Bahn- und Postschaltern begegne. Ich fühle mich da viel weniger fremd, als wenn ich in der Deutschschweiz unterwegs bin.

MS: In der Westschweiz ist die Integration ganz klar weiter fortgeschritten. Das hängt mit kulturellen und mentalen Gegebenheiten zusammen. Die Westschweiz gehört zum romanischen Kulturraum und bei Abstimmungen zeigt sich deutlich, dass die Westschweizer eindeutig offener für Fremde sind. Auch in den Pfarreien sind Afrikaner stärker präsent.


Was bräuchte es aus Ihrer Sicht für die Integration afrikanischer Christen in die Pfarrgemeinden vor Ort?

SAP: Das ist sehr unterschiedlich und hängt davon ab, ob sie hier fest ansässig sind und einer Arbeit nachgehen oder um Asyl ersuchen und erwerblos sind. Für Letztere sind eine Willkommenskultur und soziale Kontakte existentiell sehr wichtig. Dies zeigte sich mir auch in meiner Arbeit in einem Asylzentrum für minderjährige Flüchtlinge. Die Asylsuchenden möchten sich willkommen fühlen und sollten sich auch. Sie brauchen ein Zuhause, damit meine ich einen geschützten und vertrauten Raum, und klare Orientierung. Mit der Migration beginnt für sie ein ganz neues Leben, sozusagen wie bei einem Kleinkind. Die Migranten müssen eine neue Sprache lernen und mit den anderen kulturellen Begebenheiten zurechtkommen. Hierfür ist Information das A und O. Ich erzähle jeweils das Beispiel von Nähe und Distanz beim Anstehen am Postschalter. Wir Afrikaner halten nicht so viel Abstand zur vorderen Person wie die Schweizer. Das sind feine kulturelle Unterschiede, und es ist wichtig, diese zu kennen. So können negative Erfahrungen vermieden werden. Wer sich fragt, wie am besten Asylsuchenden geholfen werden kann, empfehle ich, sie zu sich einzuladen und sich gegenseitig über die jeweiligen Kulturen und Gesellschaften zu informieren. Die Migranten wollen lernen und sich integrieren.

MS: Die Pfarreien sind bemüht, eine offene, multikulturelle Pfarrei zu sein, aber de facto sind sie zu wenig aktiv. Es gäbe verschiedene Gefässe und Möglichkeiten, Migranten stärker ins Pfarreileben zu integrieren. Beispielsweise singt in Biel ein afrikanischer Chor regelmässig in den Gottesdiensten. Die Migranten sind für Veranstaltungen, in Vereine und Gremien der Pfarrei einzuladen, Netzwerke sind zu knüpfen und ihr Engagement zu unterstützen. Vor allem von jenen, die auf die Pfarrei zu gehen und um Integration bemüht sind.

SAP: In Arbon im Kanton Thurgau, wo wir einige Jahre wohnten, trugen vor allem viele Mitchristen zu unserem Gefühl der Gemeinschaft und Verbundenheit mit den Ansässigen bei. Es waren nicht nur die Seelsorger.


Integration ist möglich und sie setzt Engagement voraus.

MS: Der Religion ist eine grosse integrative Kraft inne. Als katholische Kirche sind wir weltumspannend, der Afrikaner aus Togo ist mein Bruder, die Tamilin aus Sri Lanka meine Schwester im Glauben. Meine Erfahrung ist, dass dieses in der Religion liegende Potential, gerade auch in der christlichen, viel zu wenig für die Integration fruchtbar gemacht wird. Die Religion bzw. die Glaubensgemeinschaft ist das einzige, das ihnen im Migrationsland vertraut ist. Alles andere ist ihnen fremd. In der Pfarrei könnten sie soziale Gemeinschaft erleben, Kontakte knüpfen und die hiesige Kultur näher kennen lernen. Das verbindende Potential und die tragende Kraft der Religion ist nicht zu unterschätzen. Aber, die kulturellen und auch emotionalen Barrieren sind noch zu hoch. Gerade das emotionale Element ist wichtig bei der Integration von Afrikanern. Ein Afrikaner muss im Gottesdienst seine Gefühle in Tanz, in Bewegung und im Singen zeigen können. Integration geschieht natürlich auch über die Ehe, wenn ein Afrikaner oder eine Afrikanerin eine Schweizerin bzw. einen Schweizer heiratet. Aber meine empirische Studie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Migrationsfamilien (vornehmlich Kroaten, Italiener, Portugiesen ...) offenbarte, dass die Zweit- und auch Drittgeneration zu einem grossen Teil einen Partner mit denselben nationalen Wurzeln wünschen und suchen. Wenn ich noch einen Blick auf die Eritreer machen darf: Die Religion verbindet sie mit ihrer Herkunftskultur. In ihrer «Missionsgemeinde» können sie ihre Kultur leben. Das gibt ihnen Halt und Sicherheit, gerade auch angesichts der Ungewissheit ihrer Zukunft. Hier fühlen sie sich zuhause, wenn alles rundherum neu ist: die Sprache, die Mentalität, die Kultur, die Arbeitswelt.


Abgesehen von den religionspolitischen Konflikten unter Eritreern, werden auch aus anderen Herkunftsländern ethnische Konflikte in die Schweiz transportiert?

SAP: Auch die anderen Migranten nehmen die politischen und teilweise instrumentalisierten ethnischen Konflikte in die Schweiz mit und sie spielen hier weiter eine handlungsleitende Rolle.

MS: Darüber hinaus sind die sozialen Unterschiede nicht zu unterschätzen. Für dieses Jahr wollte ich die Botschafter der einzelnen afrikanischen Länder zur Wallfahrt nach Einsiedeln einladen und habe vorgängig mit einigen Afrikanern darüber gesprochen. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Für Bestimmte ist es unvorstellbar, dass der Botschafter neben dem Asylsuchenden desselben Landes friedlich in der gleichen Kirchenbank sitzt, wie wenn nichts wäre. Von einer Einladung habe ich daher vorerst abgesehen.


Heuser macht in seinem Artikel auf Konversionen und konfessionelle Neuorientierungen während der Migration aufmerksam. Begegnen Sie Afrikanern mit Konversionsbiografien? Was trägt zur Konversion bei?

SAP: Ich kenne eine Person aus meinem Heimatland Togo, die in die Schweiz immigriert ist. Hier kam sie in Kontakt mit der Kirche; sie liess sich taufen und ministriert heute – als Erwachsene – im Gottesdienst. Die Lebensumstände sind hierbei sehr entscheidend.

MS: Gerade dieser Punkt führt meines Erachtens auch dazu, dass sich einige – wenn nicht sogar die Mehrheit – mit der Migration von der Kirche und auch vom Glauben distanzieren. Denn der soziale Druck von Familie und Dorfgemeinschaft fällt in der Schweiz weg. Die Lebensumstände sind ganz anders. Wenn Afrikaner in einer Pfarrei keine Heimat finden, dann kann die Bedeutung der Religion abnehmen, weil sie keine religiöse Gemeinschaftserfahrung machen können. Sie werden säkular. Afrikaner sind sehr anpassungsfähig. Ich gehe davon aus, dass die Zweitgeneration säkularer aufwächst, ausser, die Familie findet Anschluss in einer Pfarrei oder einer Migrantengemeinde und erfährt da eine Willkommenskultur und Gemeinschaft.


Und zu guter Letzt noch ein Blick nach Afrika. Wie sehen Sie die Entwicklung der christlichen Kirchen in Ihrem Heimatland Togo?

SAP: Es gibt einen grossen Aufbruch. Die Gottesdienste werden sehr gut besucht. Einige stellen dies aber auch in Frage: Wie weit wird das im Alltag gelebt, was im Gottesdienst gefeiert wird? Gibt es eine Entsprechung zwischen dem, was man glaubt und dem, was man lebt? Auch sind auf Läden, Kleinunternehmen wie Fahrradreparaturwerkstätten, Autos, T-Shirts Bibelverse und Sprüche zu lesen und religiöse Bilder zu sehen. Sie sollen (vor Schadzauber) schützen; sie stehen für die Hoffnung auf gutes Gelingen und sollen ein Leben in Fülle gewähren. Dahinter entdecke ich die Haltung: Ich lehne mich zurück, denn Gott wirkt. Ich muss hier noch unbedingt ergänzen: In Afrika definieren sich Menschen nicht oder weniger über eine bestimmte Religion oder Konfession. Diese haben eher eine Funktion. Manche nutzen oft die Angebote von mehreren Religionen, je nachdem, was sie in ihrer gegenwärtigen Situation gerade brauchen. Wenn jemand sich als modern präsentieren will, dann besucht er die Gottesdienste einer Grosskirche oder nimmt an den Veranstaltungen der Pfingstkirchen teil. Konfessionelle Unterschiede sind zweitrangig (oder sogar irrelevant). Wenn er krank ist, sucht er vielleicht einen Führer und Heiler der traditionellen Religion auf. Ferner sind die Ahnen im Lebensgefühl stark verankert und im Alltag sehr präsent. Im Zentrum von allen religiösen Handlungen stehen die Sehnsucht und die Hoffnung nach einem Leben in Fülle im Hier und Jetzt.

Interview: Maria Hässig

 

1 Siehe: www.migratio.ch/de/dokumente/unsere-zahlen

2 Siehe: https://africancouncil.ch

1 Marco Schmid (Jg. 1976) arbeitet seit 2016 in der Citypastoral der Katholischen Kirche der Stadt Luzern. Daneben studiert er an der Hochschule für Design und Kunst in Luzern «Kunst und Vermittlung». Seine Erstausbildung waren die Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg i.Ue. 2008 schloss er das Theologiestudium an der Universität Gregoriana in Rom ab. Von 2008 bis 2013 war er Nationaldirektor von Migratio, der Dienststelle der Schweizer Bischofskonferenz für die Migrantenseelsorge, und bis 2015 stellvertretender Generalsekretär der Schweizer Bischofskonferenz.

2 Serge Agbodjan-Prince stammt aus Togo. Er studierte Entwicklungsphilosophie und -soziologie an der Universität in Togo und schloss mit einem Magister in Philosophie an der Universität in Wien ab. Zu seinen weiteren Studien sind der Master of Arts in Interkulturelle Kommunikation und Führung am Institut für Kommunikationsforschung an der Universität Luzern zu zählen. Er war Projektverantwortlicher im Bereich Interkulturelle Weiterbildung im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen, ziviler Friedensdienstexperte im Projekt «Krisenprävention und Konflikttransformation im Bereich der grenzüberschreitenden Transhumanz in Niger, Burkina Faso und Benin der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Benin und Leiter eines Heims für minderjährige unbegleitete Asylsuchende in Zürich. Er arbeitet am Berner Bildungszentrum Pflege, ist Mitglied der Kommission für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der Schweizer Bischofskonferenz und wohnt seit 2017 in Bern.