Pastoralraum Seeland: Eine einmalige Chance
Seit bald eineinhalb Jahren nimmt ein kleines Virus grossen Einfluss auf das pfarreiliche Leben. Anscheinend hat niemand wahrhaben wollen, dass auf die erste eine zweite Coronawelle folgte, dann eine dritte und nun steht die vierte bevor. Dabei schwankte die Gemütslage der Seelsorgenden zwischen der Hoffnung, dass alles bald wieder ist, wie es einmal war, und der Befürchtung, dass die neue Normalität nicht die sein kann, die sie einmal gewesen ist.
Der Pastoralraum Seeland wurde im Mai 2017 aus drei Pfarreien errichtet und als die eine neue Pfarrei Maria Geburt Lyss-Seeland umschrieben. Die Region ist Diasporagebiet und sehr weitläufig. Das kirchliche Leben wird von den vier Pfarreizentren in Büren a. A., Ins, Lyss und Täuffelen her entwickelt und organisiert.
«Als die ausserschulische Katechese ausgesetzt wurde, war Zeit und Raum für die Neugestaltung der Katechese.»
Während des ersten Lockdowns war es für das Seelsorgeteam wichtig, den Kontakt mit den Menschen zu pflegen, von denen wir angenommen haben, dass sie die gemeinschaftlichen Aktivitäten der Pfarrei vermissen. Viele Telefonate wurden geführt. Ausgewählte Haushalte bekamen wöchentlich eine Bildmeditation zugesandt. Die Kirchen blieben offen und wurden entsprechend den Festen des Kirchenjahres (Palmsonntag, Karfreitag, Ostern usw.) dekoriert.
Mit dem Sommer begann die Zeit der Schutzkonzepte für Veranstaltungen. Ich habe sie als eine Zeit mit vielen Diskussionen in Erinnerung. Warum können Anlässe wie ein Seniorennachmittag oder die Minifilmnacht nicht wieder im üblichen Rahmen stattfinden? Stehen die Massnahmen nicht in einem Widerspruch zur Freiheit und Selbstverantwortung der Menschen? Engagierte Pfarreiangehörige bringen ihre Sorge um die Gemeinschaft zum Ausdruck, wenn Mann und Frau sich nicht ungezwungen treffen können.
In einem anderen Bereich bot sich uns durch die pandemiebedingten Einschränkungen eine geradezu einmalige Chance. Als die ausserschulische Katechese ausgesetzt wurde, war Zeit und Raum für die Neugestaltung der Katechese, die von nun an als Generationenkatechese verstanden und pastoralraumweit umgesetzt wird. Die Idee war, wegzukommen vom jahrgangsweise organisierten Unterricht in Kleingruppen hin zu einem attraktiven modularen Angebot für verschiedene Alterssegmente, bei denen bewusst immer wieder die Familien einbezogen werden. Mit diesem erneuerten Angebotsprofil waren vier wesentliche Entscheide verbunden:
- Die Erhöhung des Firmalters auf 17+.
- Eine neue Praxis bei der Feier der Erstkommunion.
- Online-Anmeldungen auf einer Plattform, die mit unserer Pfarrei-Administrations-Software verknüpft ist.
- Online-Treffen anstelle von Präsenzunterricht falls erforderlich.
Am bemerkenswertesten dürfte der Entscheid für eine neue Praxis der Erstkommunionfeiern sein.1 Konkret bedeutet dies, dass Kinder (von der 3. bis zur 5. Klasse), welche das Modul «Erstkommunion» absolviert haben, gemeinsam mit der Familie und in Rücksprache mit den Seelsorgenden entscheiden, an welchem Sonntag sie ihre Erstkommunion empfangen möchten. Das Fest wird in der Sonntagsmesse gefeiert und so wieder in die Pfarreigemeinschaft zurückgeholt.
Die Möglichkeit von Online-Anmeldungen wurde während der zweiten und dritten Welle der Pandemie auch für Gottesdienste genutzt und wir empfehlen sie – obwohl von den derzeitigen Bestimmungen nicht zwingend gefordert – unseren Pfarreiangehörigen für Sonn- und Feiertage weiterhin.
Die Seelsorgenden der Pfarrei haben sich mit der Situation arrangiert. Schutzmaske und vollständige Impfung erlauben es, etablierte und gerne besuchte Anlässe wieder aufzunehmen. Die Neuaufbrüche – vor allem im Bereich der Katechese – werden sich hoffentlich etablieren.
Dr. theol. Matthias Neufeld, leitender Priester des Pastoralraums Seeland
Küssnacht am Rigi: Werden sie wieder kommen?
August 2021. Anderthalb Jahre Pandemie. Im Moment kein Lockdown, «nur» noch Personenbeschränkung und Maskenpflicht an vielen Orten – auch in der Kirche. Singen wieder erlaubt – wenn auch nur hinter der Maske und mit Abstand.
Sichtbar in allen Kirchen (wohl nicht nur in Küssnacht, nehme ich an): Die Reihen haben sich gelichtet. Das hat mit dem zunehmenden Alter der älteren Pfarreimitglieder zu tun und mit der zunehmenden Distanz der Jüngeren. Und vermutlich auch mit Corona. Die Leute haben sich daran gewöhnt, nicht in die Kirche zu gehen, nicht in die Chorprobe, nicht an den Vereinsanlass. GV-Marathon im Frühjahr? Geschenkt. Guetzli backen für ältere Mitmenschen im Advent? Fällt aus. Die Zeit kann anderweitig genutzt werden. Vorträge, ohnehin meist schlecht besucht, finden nicht statt. Und niemand scheint sie zu vermissen.
«Weil die Begegnung bei Gottesdiensten oder Veranstaltungen wegfiel, verlor man den einen oder die andere aus den Augen.»
Die bange Frage, die Pfarreileitende, Dirigentinnen und Dirigenten, Vereinsvorstände usw. umtreibt, ist, ob sie denn wiederkommen werden, die bis anhin so treuen Kirchgänger, Sängerinnen, Bastlerinnen und Guetzlibäcker. Corona hat manches in Frage gestellt. Nicht nur in Kirchenkreisen dürfte man bemerkt haben, dass eine Sitzung weniger kein Weltuntergang bedeutet und dass wir generell eher ein Zuviel an Aktivitäten als ein Zuwenig haben. Aber auch die andere Seite wird spürbar: Menschlicher Kontakt ist unverzichtbar. Die Messe kann ich zwar bequem daheim vom Sofa aus mitverfolgen. Aber mit wem schimpfe ich anschliessend über die langweilige Predigt, den unruhigen Ministranten, die Organistin, die immer viel zu schnell spielt? Oft sind es ja nur ein paar Minuten vor der Kirchentür, ehe man heimeilt, um den Sonntagsbraten aufzusetzen. Aber es ist eine Begegnung in echt.
Bei Beerdigungen während des Lockdowns haben Angehörige oft erzählt, dass ihr Vater, ihre Tante, die Cousine, welche im Altersheim keinen Besuch mehr haben durften, geistig rasch abgenommen habe. Es fehlte der Aussenkontakt, die Anregung durch andere. Das Telefon wurde wichtig – und konnte doch das Gespräch von Angesicht zu Angesicht nicht ersetzen. Mehr noch als in «normalen» Zeiten bekommt man als Seelsorgerin oder Seelsorger das Gefühl, dass man/frau nie genug tut: Weil die Menschen nicht ohne Weiteres zu uns kommen konnten, weil die Begegnung bei Gottesdiensten oder Veranstaltungen wegfiel, verlor man den einen oder die andere aus den Augen. Da ist die alleinstehende Frau wohl kein Einzelfall, die nur an die erste wieder stattfindende Sitzung kam, um zu sagen, dass sie ihre Freiwilligenarbeit per sofort beende: Es habe sich in den letzten Monaten ja auch niemand um sie gekümmert.
Nie genug waren auch die Palmzweige, die vom Priester quasi am laufenden Band gesegnet wurden. Die Kerzenkasse, in welche das Geld für die Osterkerzen gelegt werden sollte (erstmals wurden diese zur Selbstbedienung angeboten), überquoll schon am ersten Tag. Traditionen, die den Menschen offenbar sehr am Herzen liegen.
Werden sie wiederkommen, die Gläubigen in den Gottesdienst, die Sängerinnen und Sänger von Kirchen- oder Seniorenchor, die helfenden Hände bei so vielen Vereins- und Pfarreianlässen? Corona wird nicht spurlos an uns als Pfarrei, als Kirche vorbeigehen. Aber vielleicht werden sich neue Spuren und Wege auftun, von denen wir noch nichts ahnen. Bei uns gab es während und wegen Corona einen gestalteten Krippenweg und offene Kirchentüren, die auch am Abend zur Stille einluden. Anstelle ausgefallener Familien- und Kindergottesdienste wurden Feiern «to go» angeboten und rege genutzt, Familien kamen anstatt in den Gottesdienst zum Osterfeuer. Und dorthin werden sie wohl wiederkommen, wenn wir den Mut haben, die neuen Wege auch nach Corona weiterzugehen.
Claudia Zimmermann, seit 2018 Pfarreibeauftragte in Küssnacht a. Rigi
Visp/Eyholz-Baltschieder: Die Suche nach «neuer» kirchlicher Normalität
Als Papst Franziskus am 27. März 2020 aufgrund der Corona-Pandemie eine «besondere Andacht» feierte und dabei die Perikope der Sturmstillung (Mk 4,35–41) betrachtete, stellte er Folgendes fest: «Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloss und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben.» Im gleichen Jahr erschien am 3. Oktober, zum Gedenktag des Heiligen Franz von Assisi, die Enzyklika «Fratelli tutti». Hier betont der Papst nochmals, dass die Covid-19-Pandemie «unsere falschen Sicherheiten offenlegte». Dieses Wort macht betroffen. Haben wir uns in der Vergangenheit an «falschen Sicherheiten» orientiert? Haben wir Sicherheiten bewahrt und dabei andere Dinge vernachlässigt?
Ich sehe die Lonza in Visp, wie ihre mächtigen Bio-TraktGebäude zurzeit wie Pilze aus dem Erdboden schiessen. Hier ist anschaulich, wie Fortschritt, Leistungsdenken, Konkurrenzkampf und Gewinnoptimierung alle Lebensbereiche durchdrungen haben. Fast auf der gegenüberliegenden, südlicheren Seite des «Lonza-Städtchens» steht auf mächtigem Felsrand die grosse Martinskirche, wohl immer noch das höchste Gebäude in Visp. Im Gegensatz zur Lonza jedoch wird das Gotteshaus mit seinen über 800 Sitzplätzen immer leerer. Abgesehen von etwa hundert Gläubigen, die (noch) den sonntäglichen Gottesdienst besuchen, haben sich auch hier viele von der Institution «Kirche» verabschiedet. Das Pfarreileben ist von den Wellen der Pandemie stark betroffen worden. Was der Kirche geblieben ist, sind die liturgischen Feiern und der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen.
«Gerade in der Pandemiezeit erhofften sich viele Menschen von der Kirche eine klärende Antwort auf zentrale Fragen.»
Das Zweite Vatikanische Konzil sagt, dass die Eucharistie «Quelle und Höhenpunkt» christlichen Lebens sei. Als ich gesehen habe, wie viele Pfarrer die Eucharistie auf Youtube feierten, schien es mir, die Kirche lebe nur im «Höhepunkt»! Gibt es keine Alternativen? Wäre es nicht angebrachter, Quelle und Höhepunkt vorsichtiger zu feiern? Die unzähligen Livestream-Gottesdienste verstärkten zusätzlich die «Klerikalisierung» der Kirche. In einer Zeit des Priestermangels klingt dies paradox! Gerade in der Pandemiezeit erhofften sich viele Menschen von der Kirche eine klärende Antwort auf zentrale Fragen wie: Warum ist es zu dieser Katastrophe gekommen? Ist die Pandemie ein Zeichen Gottes? Leider blieb hier die Kirche oft stumm und hat diesen Aspekt bei Predigten oder in Katechesen wenig thematisiert.
Der organisatorische Aufwand für die Anmeldung zu den Sonntagsgottesdiensten war hoch. Das Telefon des Pfarreisekretariats lief heiss. Viele Pfarreiangehörige haben freiwillig Grosses geleistet: Eingangskontrollen vor jedem Gottesdienst, Desinfizierung der Kirchbänke und Gesangbücher. Gegen Ende der dritten Welle nahm ich als Pate an einem Firmgottesdienst teil. Die Feier in diesem kleinen persönlichen Rahmen war sehr berührend. Insgesamt stiessen die Erstkommunion und die Firmung im familiären Rahmen auf viele positive Echos. Das müsste in Zukunft weitergedacht und ausgebaut werden. Wie können sowohl die Stärke der «Hauskirche» als auch die Stärke der «communio» im Grossen miteinander verbunden werden?
Die Beschränkungen in der Kirche führten bei kirchlichen Mitarbeitern dazu, dass plötzlich viel freie Zeit für andere Dienste vorhanden war. Hier hätte man sich neu auf die Diakonie, den Dienst der Nächstenliebe besinnen müssen, indem man vermehrt Hausbesuche macht. In dieser Form wäre es auch möglich gewesen, sakramentale Dienste wie z. B. eine Taufe mit der Familie zuhause feiern zu können. Die Whatsapp-Nachricht mit Bibelsprüchen ist noch keine Seelsorge am Menschen.
Es fällt weiter auf, dass es keine gemeinsame Beratung unter den Seelsorgerinnen und Seelsorgern gab. Schon gar nicht Online-Sitzungen. Viele Menschen bedauerten, dass sie den Bischof während der Pandemie nicht wahrnehmen konnten. Auch wurde von ihm die Chance verpasst, Gemeinschaft zu stiften, indem er die kirchlichen Mitarbeitenden des Oberwallis eingeladen hätte, diese dringliche Situation per Videokonferenz zu besprechen und eine gemeinsame Antwort zu finden. Die Kirchenleitung hätte das Überangebot an liturgischen Feiern unbedingt koordinieren müssen. Die Martinskirche Visp hätte da eine gute Alternative geboten, denn sie verfügt schon länger über eine Kamera, durch die der lokale Fernsehkanal «rrotv» die sonntägliche Eucharistiefeier ins Oberwallis ausstrahlt.
Eine Beobachtung war besonders schmerzhaft: Es ist die Baustelle «Volkskirche und Zukunft». Man hat doch das deutliche Gefühl, dass die Volkskirche am Ende ist. So wie sie früher bestanden hat, kann sie heute nicht mehr bestehen. Was könnte an ihre Stelle treten? Auch wenn diese Frage bei vielen Gläubigen Angst auslöst, wird die «Zeit der Entscheidung» (Papst Franziskus) immer dringender. Christian Olding stellt dazu fest: «Von den bestehenden kirchlichen Strukturen muss etwas sterben – damit man an der Kirche wieder sehen kann, was es heisst, sich Gott zu überlassen.»2
Als Jugendseelsorger ist mir aufgefallen, dass die Pandemie ein Brandbeschleuniger für eine noch grössere Distanzierung der Jugendlichen von der Kirche war. Noch weniger Jugendliche als vor der Pandemie praktizieren ihren Glauben in der Kirche. Wenn die Jugendlichen ein Spiegel von Pfarrei, Kirche und Gesellschaft sind, dann müssen wir in diesen Spiegel schauen.
Papst Franziskus ruft uns auf, der «Kreativität Raum zu geben, die nur der Heilige Geist zu wecken vermag. Es bedeutet, den Mut zu finden, Räume zu öffnen, in denen sich alle berufen fühlen, und neue Formen der Gastfreundschaft, Brüderlichkeit und Solidarität zuzulassen.»
Dr. theol. Damian Pfammatter, Diakon, Leiter der Fachstelle Jugendseelsorge Oberwallis, Religionslehrer sowie Seelsorger in der Pfarrei St. Martin Visp/Eyholz-Baltschieder und neu in den Pfarreien Lalden und Eggerberg