Eine Kultur der Gastfreundschaft entwickeln

Werden die Menschen wieder zum Gottesdienst kommen? Wird sich die Chorszene erholen? Gunda Brüske und Sandra Rupp Fischer sehen in guten Erfahrungen während der Pandemie Potenzial für die Zukunft.

Die Noch-und-nach-Coronazeit stellt das gottesdienstliche Leben vor mehr als eine Herausforderung. Es besteht Anlass zur Sorge, dass sich Menschen aus ihrem Chor verabschieden, dass Mitfeiernde nicht zurückkommen, dass manche digitale Feiern vorziehen und anderes mehr. Derzeit wird oft betont, dass jede Krise auch Chancen birgt. Worin könnten sie für den Gottesdienst bestehen? Und was lernen wir aus den guten Erfahrungen der vergangenen Monate, die es ja auch gab? Dazu wäre mehr zu sagen, als an dieser Stelle möglich ist. Wir wählen drei Punkte mit Potenzial für die Zukunft aus.

Einladen

Wo eine Praxis abbricht, stellt sich die Frage, wie ein Wiedereinstieg gelingen, wie aus dem Defizit ein Anreiz werden kann. Die Gründe für den Abbruch zu kennen, also über Gottesdienste – auch gestreamte – ins Gespräch zu kommen, ist immer sinnvoll eingesetzte Zeit. Es kann Veränderungen anstossen. Und es bietet die Möglichkeit einer persönlichen Einladung zum Gottesdienst. Wer nicht mehr joggen geht und von einer Freundin dazu eingeladen wird, tut sich leichter. Die persönliche Einladung von Freunden macht’s möglich. Das ist ein Ansatzpunkt für ein «back to church». Diesen Pfad beschreiten seit 2003/2004 anglikanische Gemeinden in England und inzwischen in zahlreichen weiteren Ländern und Konfessionen, unter anderem in evangelischen Kirchenkreisen in Deutschland.

Die Grundidee ist einfach: «Inviting someone you know to something you love.» Dieser jemand sind z. B. Bekannte, Freundinnen und Freunde, Nachbarinnen und Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen. Die geliebte Sache ist der ganz normale Sonntagsgottesdienst. Michael Harvey, ein anglikanischer Pfarrer, forderte die Mitfeiernden eines Gottesdienstes auf, jemanden einzuladen und zwar auf den letzten Sonntag im September. Sein Name «Back to Church Sunday» knüpft an das in Grossbritannien vertraute, positiv besetzte «back to school» der ersten Wochen eines neuen Schuljahrs an. Harveys Experiment führte zu einer beachtlichen Verbreitung. Die nachweisbare Zunahme an Mitfeiernden bestätigte die Wirksamkeit des Ansatzes. Die Evaluation von deutschen Pilotprojekten unter dem Titel «Gottesdienst erleben» (2016/17) zeigte, dass durchschnittlich etwa 20 Personen mehr zum Gottesdienst kamen.1 Gut die Hälfte der deutschen Projektorte wollte weitermachen, 80 Prozent würden es anderen Gemeinden in der Region empfehlen.

Wichtiger als Zahlen sind für Harvey und die deutschen Initiatoren die Kulturveränderungen, die damit angestossen werden: Mitfeiernde werden sich der Qualität ihrer Gottesdienste bewusst, wechseln in die Fremdperspektive von nicht (mehr) Mitfeiernden, übernehmen gemeinsam Verantwortung, überwinden Widerstände, die mit dem Einladen natürlich verbunden sind. Es gehe nicht einfach darum, leere Kirchenbänke zu füllen. Die Motivation müsse tiefer verwurzelt sein: Wenn Gottesdienste eine Begegnung mit Gott ermöglichen, wenn diese relevant ist für das Leben, dann liegt es nahe, jemanden einzuladen, um ihm oder ihr diese Erfahrung zu ermöglichen. Darum muss es letztlich auch in der Noch-und-nach-Coronazeit gehen.

Willkommen heissen

Mit dem «back to church» ist ein anderer Punkt eng verbunden: Wir brauchen eine Kultur der Gastfreundschaft für Gottesdienste. Durch die Begrenzung der Anzahl von Feiernden begrüssten Personen die Ankommenden im Eingangsbereich von Kirchen. Ein unfreiwilliges «must have», ein Ordnerdienst, für den sich dankenswerterweise Frauen und Männer aus der Pfarrei bereit erklärten. Vielleicht gab es darunter Menschen, denen es Freude macht, andere zu begrüssen, und Eintretende, die das zu schätzen wissen. Wenn Menschen eingeladen werden, (wieder) zu kommen, ist ein freundliches Willkommen nicht nur ein schönes Zeichen, es gibt auch Sicherheit. Theologisch gesehen ist es ein Schritt zur Konstitution der feiernden Gemeinschaft: Christinnen und Christen am Eingang grüssen die Ankommenden als Schwestern und Brüder im Glauben. Ein Willkommensteam von Menschen aus der Pfarrei ist nichts Neues, das gibt es in anderen Ländern, anderen Kirchen und bei uns oft zu besonderen Anlässen wie Erstkommunion oder Firmung, bei denen kirchenfernere Menschen erwartet werden. Beim regelmässigen Sonntagsgottesdienst findet sich diese Praxis selten. Wird nicht erwartet, dass jemand neu dazu kommt? Dabei gibt es genügend Orte, an denen das der Fall ist: in Städten und Tourismusregionen; wenn Neuzuzüger und Christinnen und Christen aus anderen Kulturen das erste Mal diese Kirchentüre öffnen oder wenn Menschen eingeladen werden. Der Begrüssungsdienst reicht mit einem freundlichen Wort das Kirchengesangbuch, weist auf die Besonderheit des Tages hin (unser Chor singt heute …) und hilft bei Unsicherheiten. Vielleicht verabschieden sie auch hinterher zusammen mit dem Vorsteher oder der Vorsteherin. Ist Gastfreundschaft im Gottesdienst nicht ein «must have»?

Gemeinsam singen

Chöre im liturgischen Dienst (z. B. Kirchenchöre, aber auch Kinder- und Jugendchöre) waren in den letzten Monaten besonders gefordert. Die Hauptaufgabe eines Chores, das gemeinsame Singen, war nicht mehr möglich. Es ist noch nicht abschätzbar, wie sich die Chorszene von der Krise erholen und welcher Wandel allenfalls geschehen wird. Die persönlichen Erfahrungen aus der Arbeit mit dem Marienchor Olten bestätigen jedoch, wie wichtig die Beziehungspflege unter den Mitgliedern ist, um auch während einer Krise zu bestehen. Beziehungspflege wird auch bei anstehenden Veränderungen ihre Kraft entfalten.

Ein kleiner Rückblick: Mitten im ersten Lockdown erklang ein liturgischer Ostergruss mit Orgelklängen und gesungenem Osterhalleluja über den Turm der Marienkirche in die Stadt Olten. Danach folgte ein Eiertütschen auf Distanz, der regelmässige Austausch in Zoom-Meetings sowie Orgelkurzkonzerte in Serie für jeweils gerade vier Zuhörende. Sobald Vereinstätigkeiten wieder möglich waren, fanden wieder Proben und Einsätze statt. Dann kam das Verbot des Singens in Gruppen. Kurzerhand wurden die Chorproben zu Instrumentalproben für Anfängerinnen und Anfänger sowie Fortgeschrittene. Die Chormitglieder wurden aus Platzgründen zu chorinternen, eigens gestalteten Wortgottesdiensten eingeladen. Ergänzend zu den Probenalternativen erhielten die Sängerinnen und Sänger fast wöchentlich eine Mail, dazwischen immer mal wieder ein liebevolles Präsent, z. B. ein Licht im Advent, ein Lavendelsträusschen im Sommer. Chorschwund aufgrund der Pandemie gibt es bisher nicht, von Probe zu Probe kommen mehr Leute zurück.

Für Chöre, welche bereits vor der Pandemie eine unsichere Zukunft hatten, wird der Wiederaufbau nach der Krise wohl eine grosse Herausforderung. Vielleicht ist nun der Zeitpunkt da, in der Chorarbeit neue Schwerpunkte zu setzen, Traditionen, welche nicht mehr umsetzbar sind, zurückzulassen und mutig Neues auszuprobieren. Ob jetzt der richtige Moment ist, z. B. eine Vorsängerinnen- und Vorsängergruppe ins Leben zu rufen und Menschen in den Kantorinnen- und Kantorendienst zu berufen? Auch ohne Pandemie wird die Rolle des Vorsängers oder der Singleiterin an Wichtigkeit zunehmen. Denn je kleiner die Gottesdienstgemeinde, desto intimer und privater wird das gemeinsame Singen. Sich in eine Leadstimme einklingen zu können, bietet viel Unterstützung.

Der fehlende Gesang in den Gottesdiensten und die fehlende Möglichkeit, in Gemeinschaft zu singen oder als Chor zu proben, wurde von den Mitfeiernden bzw. den Chormitgliedern schmerzlich vermisst. Zum Glück war der Kantorendienst oder das Musizieren mit professionellen Musikerinnen und Musikern jederzeit möglich. Trotzdem ersetzte dies den Gemeindegesang nicht. Nun, da das Singen im Gottesdienst wieder möglich ist, melden zahlreiche Mitfeiernde zurück, wie wunderbar es ist, dass wieder gesungen wird. Die Menschen sind gerührt, selten gab es so viele Feedbacks im Stile «Ich hatte Hühnerhaut». Ein Sprichwort sagt «Mangel macht Wert bewusst», dies könnte eine Chance für das Feiern und Singen in der Zeit nach Corona sein. Setzen wir uns dort ein, wo wir etwas vermisst haben – im gemeinsamen Krafttanken beim Beten, im gemeinsamen Singen, im gemeinsamen Feiern von Gottes froher Botschaft.

Gunda Brüske* und Sandra Rupp Fischer**

 

1 vgl. dazu www.gottesdiensterleben.de mit der empfehlenswerten Broschüre «Gottesdienst erleben. Der Back to Church Sunday in Deutschland» 32020.

* Dr. theol. Gunda Brüske (Jg. 1964) studierte in Göttingen, Jerusalem und München Theologie. 1998 promovierte sie mit einer Arbeit über Romano Guardini. Seit 2004 arbeitet sie im Liturgischen Institut der deutschsprachigen Schweiz. Neben der Co-Leitung zusammen mit P. Peter Spichtig OP sind ihre Schwerpunkte liturgische Aus- und Weiterbildung, die Website www.liturgie.ch und die Wort-Gottes-Feier. Sie ist u. a. Dozentin im Studiengang Theologie (TBI).

** Sandra Rupp Fischer (Jg. 1971) ist kirchenmusikalische Mit­arbeiterin am Liturgischen Institut in Freiburg i. Ü. und arbeitet in diversen kirchenmusikalischen und musikpädagogischen Gremien mit. Sie ist ferner Leiterin des Marienchors Olten, Fachbereichsleiterin Kirchenmusik der Katholischen Kirche Olten, Initiantin und Projektleiterin von cantars – Kirchenklangfest und Schulleiterin der Musikschule Olten.