SKZ: Bischof Felix Gmür, die Pandemie dauert schon mehr als anderthalb Jahre. Welches waren für Sie sehr herausfordernde Situationen?
Bischof Felix Gmür: Wie für viele Menschen war es für mich besonders schwierig, als man Menschen im Umfeld, die besonders gefährdet waren und zugleich zu vereinsamen drohten, nicht mehr so einfach besuchen konnte. Ich habe viel telefoniert und geschrieben, aber dies ersetzt die physische Begegnung nicht. Vor allem in der ersten Welle bestand eine der grössten Herausforderungen darin, den Bedürfnissen der Gläubigen und der Kirchen bei der Landesregierung Gehör zu verschaffen. Viele Gläubige empfanden es wie ich als sehr schwierig, dass man sich laufend mit den zweifelsfrei relevanten Bedürfnissen von Wirtschaft, Sport und Kultur befasst hat, die Ermöglichung der gemeinschaftlichen Glaubenspraxis aber gar nicht zur Debatte stand. Dies wurde erst nach weiteren Interventionen optimiert. In der zweiten Coronawelle waren wir sehr dankbar dafür, dass mit Einhaltung der Schutzmassnahmen und unserer Konzepte wieder Gottesdienste gefeiert werden durften.
Was stärkte Sie während dieser Pandemie?
Besonders ermutigend war es für mich zu sehen, wie viele Gläubige sich in den Pastoralräumen und darüber hinaus für jene engagiert haben, welchen der Lockdown besonders zu schaffen machte. Ich denke da an Telefonseelsorge, Meditationsimpulse, Unterstützungsangebote für überforderte Eltern im Homeoffice, Nachbarschaftshilfe usw.
Welches ist Ihre wichtigste Lernerfahrung?
Interessant ist der Blick auf die Kirche, wie er von aussen kommt, ich sage einmal von jenen, die wohl eher wenig mit der Kirche zu tun haben. Für sie ist Kirche Gottesdienst. Und was die katholische Kirche betrifft: Gottesdienst ist Messe. Allenfalls eine Beerdigungsfeier. Kirche wird also auf Liturgie reduziert und die Liturgie wird in ihrer Vielfalt nicht gesehen. Dass Kirche neben Liturgie wesentlich Diakonie und Glaubenszeugnis ist, kommt da nicht oder nur am Rande vor. Auch der Gemeinschafts-
aspekt tritt in den Hintergrund.
Die Pandemie beschleunigte laufende kirchliche Veränderungsprozesse und löste neue aus. Was beobachten Sie?
Die erste Coronawelle löste eine enorme Betroffenheit und einen Solidaritätsschub bei den Menschen aus. Dies spiegelte sich auch in der Seelsorge. Es entstanden zahlreiche, zum Teil auch unkonventionelle Projekte, um die Menschen zu erreichen, sie zu unterstützen, zu begleiten und zu ermutigen. Auch schon vor der Pandemie war es offenkundig, dass Kirche sich nicht mehr ausschliesslich in den Gebäuden der Pastoralräume abspielt. Papst Franziskus erinnert uns immer wieder daran, dass wir an die Peripherie gehen müssen, wenn wir mit dem Auftrag Jesu Christi wirklich ernst machen. Kreativität, Flexibilität und persönliches Engagement sind gefragt, während der Pandemie und darüber hinaus. Es gilt, vor Ort ganz konkret hinzuschauen, was es braucht, und Wege zu finden, wie Gemeinschaft aus christlicher Perspektive gelebt und gestaltet werden kann.
Welche Erkenntnisse gewinnen Sie aus Ihren Beobachtungen für die Zukunft?
Die Kirche kann von den Möglichkeiten, welche uns das Internet bietet, profitieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Mit ein paar wenigen Mausklicks konnten sich Menschen überall in der Schweiz verschiedene aktuelle Impulse für das Gebet alleine oder in der Gemeinschaft zu Hause herunterladen. Das Liturgische Institut der deutschsprachigen Schweiz hat hier eine sehr wertvolle Vernetzungsarbeit geleistet. Auch organisatorisch hat das Internet uns einiges ermöglicht. Onlinesitzungen gehörten plötzlich zur Tagesordnung. Auch wenn ich sehr dankbar dafür bin, den Menschen wieder real begegnen zu können: Zukünftig könnte es manchmal auch angebracht sein, einige kürzere Treffen gezielt online durchzuführen und sich eine Reise durch die halbe Schweiz zu sparen. Das ist auch aus ökologischen Gründen sinnvoll und öffnet Freiräume für anderes.
Während der ersten Welle wurde die Kritik laut, dass sich die Bischöfe zu wenig stark für die Anliegen und Bedürfnisse der Kirche eingesetzt haben. Während der zweiten und dritten Welle wurde die pauschale Personenanzahl für Gottesdienste unabhängig der Kirchengrösse bemängelt. Inwieweit konnten die Kirchen bei den bundesrätlichen Massnahmen mitreden?
In der Tat ging es sehr lange, bis wir bei der Regierung Gehör gefunden haben. Wir haben immer wieder insistiert und uns eingesetzt, auch interkonfessionell und interreligiös, über den Rat der Religionen. Zugleich war es uns wichtig, dass wir keinen Weg einschlagen, der nicht vom Bundesamt für Gesundheit gebilligt wurde. Wir arbeiteten mit den Behörden und deren Expertinnen und Experten zusammen, zum Wohl und zum Schutz aller. Wir wollten keine Extrawurst. Alleingänge seitens der Kirche wären nicht nur fahrlässig, sondern auch anmassend gewesen. Aber schlechter behandelt werden als andere wollten wir natürlich auch nicht.
Inwieweit konnte die Kirche Wesentliches zur Bewältigung und zum Umgang mit der Pandemie beitragen? Oder anders gefragt: Inwieweit ist sie gesellschaftlich noch systemrelevant?
War Jesus systemrelevant? Gesellschaftsrelevant? Primär geht es doch darum, dass die Kirche für die Menschen relevant ist. Und das sind unsere Kirchen, nicht für alle, weil sich manche nicht dafür interessieren, aber doch für einen grossen Teil der Menschen, die in unserem Land leben. Es ist schön, wenn die Kirche gesellschaftsrelevant ist, aber viel wichtiger ist, dass sie heilsrelevant ist. Sehr vieles von dem, was Menschen in der Nachfolge Jesu tun, lässt sich nicht quantitativ erfassen und erfolgt auch aus Motivationen heraus, die der Gesellschaft fremd sind. Was ich sehe, ist, dass die Kirche nach wie vor Menschen einen Raum bietet, in welchem sie Gott auf ganz verschiedene Weisen begegnen können und durch andere Menschen Halt, Unterstützung vielfältiger Art sowie Liebe erfahren.
Während der ersten Welle fiel öfters das Stichwort «Hauskirche». Wie kann die Familie als Hauskirche pastoral gefördert werden?
Viele kirchliche Fachstellen und Institute leisten hier wertvolle Arbeit, indem sie geeignete Handreichungen zur Verfügung stellen. Die grosse Herausforderung während und nach der Krise bleibt die Frage, wie es möglich wird, dass Menschen, die nicht regelmässig Gottesdienste besuchen oder in Gemeinschaft beten, im Vollzug entdecken können, dass Hauskirche keine hauptamtlichen Fachleute braucht. Es geht darum, dass Christinnen und Christen ihre Mündigkeit im Glauben neu entdecken, auch über die Hauskirche hinaus. Das ist gar nicht so einfach, da Kirche von vielen Menschen noch immer als Dienstleisterin für «Glaubenssachen» wahrgenommen wird. Kirchliches Handeln wird leider nicht selten auf die Anzahl gefeierter Messen reduziert. Die Idee der Hauskirchen wirkt diesem einseitig verzerrten Bild von Kirche entgegen, indem sie die Eigenverantwortung und -initiative im Glaubensvollzug stärkt, die uns allen mit der Taufe zukommt.
Interview: Maria Hässig