Vom Sinn des Bittgebets

War das Bittgebet des Papstes am 27. März 2020 Ausdruck vormoderner Theologie? Margit Wasmaier-Sailer nennt verschiedene Einwände gegen das Bittgebet und eröffnet gleichzeitig Verstehenszugänge.

Während der Pandemie wurde immer wieder die Befürchtung geäussert, dass die kirchliche Gemeinschaft aufgrund der leeren Gotteshäuser mehr und mehr verloren gehe und sich langsam auch die Mitglieder verabschiedeten, die bislang aktiv am kirchlichen Leben teilnahmen. Auch eine andere Befürchtung kam auf, nämlich dass die Kirche in einen vormodernen Wunderglauben zurückzufallen drohe. Es gab Geistliche, die nicht wahrhaben wollten, dass Sakramente nicht vor einer Infektion schützen, und dass man sich in Gottesdiensten anstecken kann. Magnus Striet sah auch in der Andacht des Papstes am 27. März 2020 eine vormoderne Theologie am Werk:
«Eine solche Epidemie wird durch die Medizin, durch medizinischen Fortschritt bekämpft, aber nicht durch ein Bittgebet. Insofern sind solche Traditionen, die jetzt reaktiviert werden, Teil eines vormodernen Weltbildes. Die Bilder, die Papst Franziskus produziert hat, waren natürlich sehr beeindruckend. Ein einsamer Mann, der auf dem Petersplatz steht. Aber die Theologie, die er dort aufgerufen hat, lässt sich vor dem Hintergrund eines naturwissenschaftlich-aufgeklärten Weltbildes kaum noch vermitteln.»1

Anders als Striet denke ich, dass Papst Franziskus mit dieser Andacht ein wirkmächtiges und zeitgemässes Zeichen gesetzt hat – gerade auch mit dem Gebet vor der Marienikone Salus populi Romani und vor dem Pestkreuz aus der Kirche San Marcello. Die Andacht des Papstes ist von medizinisch verantwortungslosen und theologisch zweifelhaften Praktiken klar zu unterscheiden. Das Gebet ist gerade jetzt eine zentrale Form kirchlichen Lebens. Daher die Frage: Wie kann das Gebet dem Menschen helfen?

Das Gebet als Raum für Klage

Das Gebet eröffnet einen Raum für all das, was Menschen auf dem Herzen haben. Im Gebet können Menschen ihre Nöte vor Gott tragen, ihre Sehnsüchte mit ihm teilen, Dank zum Ausdruck bringen und Zweifel äussern. Entscheidend ist, dass Menschen nichts herausfiltern müssen, weil Gott unsere Herzen sowieso kennt und uns auch dann noch Wohlwollen entgegenbringt, wenn unsere Mitmenschen oder wir selbst es uns versagen. So können wir Gott auch die Klage über das entgegentragen, wofür wir die Verantwortung bei ihm sehen.

Die Klage weicht dem Schmerz nicht aus, sie blickt den Tatsachen ins Auge – und eben darin liegt ihre Kraft. In der Klage konfrontieren die  Betenden Gott mit den Realitäten des Lebens. Der Widerspruch zwischen dem Glauben an Gottes Macht und Güte einerseits und der Erfahrung von Leid und Übel andererseits wird existenziell ausgetragen: Die Betenden suchen nach einer der Situation angemessenen Haltung – sie positionieren sich zur eigenen Ausgangslage ebenso wie zu Gottes Willen. In der Klage wird das Leid Gott überantwortet und die Lösung der Probleme ihm anheimgestellt – ein Akt der Selbstachtung und zugleich ein Akt der Selbsttranszendenz.

Das Gebet als Quelle der Hoffnung

Einer der grossen Einwände gegen das Bittgebet lautet, dass Gott die Menschen in unzähligen Fällen nicht erhört habe. Hans-Joachim Höhn nimmt diesen Befund ernst und kritisiert eine Theologie, «die nicht davon lassen will, das Gebet als Instrument zur von Gott gewirkten Überwindung von Mangelsituationen des Menschen einzusetzen».2 Hier werde mit einem Handeln Gottes gerechnet, das die Weltzugewandtheit Gottes situativ überbiete. Dabei sei Gott der Welt immer schon zugewandt – es gehe nur darum, dies im Gebet zu erkennen.3  

In den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich Theologen auch darüber Gedanken gemacht, was im Bittgebet erhofft werden dürfe. Während Otto Karrer für eine Spiritualisierung des Bittgebets plädierte, sprach sich Karl Rahner dafür aus, weiterhin auch die ganz irdischen Nöte vor Gott zu tragen. Nach Karrer erhört Gott jedes fromme Gebet, aber nicht, indem er den Naturverlauf wendet, sondern indem er die Betenden verwandelt.4  Karl Rahner verteidigt das traditionelle Verständnis des Bittgebets und beruft sich auf Jesus von Nazareth, der seinen Vater in Getsemani um sein Leben und um das Vorübergehen der Qual und der Schande gebeten habe.5  

In den 70er-Jahren hat Hans Schaller deutlich gemacht, dass das Bittgebet nicht als magisches Machtmittel gesehen, dass es aber auch nicht jeder Hoffnung beraubt werden dürfe: Der verengte Blick des magischen Gebetsverständnisses sei «auf eine Weise zu korrigieren, welche die appellative Kraft oder, wenn man will, die Ursächlichkeit der Bitte nicht negiert. Die Bitte darf nicht zu einem Als-ob-Unternehmen entleert werden. Sie lebt von der Hoffnung, gehört und erhört zu werden.»6 Auch wenn die Wirkungen des Bittgebets nur im Betenden liegen sollten, ist es eine Quelle der Hoffnung.

Das Gebet als Form von Solidarität

Schaller diskutiert in seinem Artikel Dorothee Sölles Einwand, das Bittgebet werde oftmals als Ersatz für moralisches Handeln missbraucht.7 Sölle hat Recht, dass das Gebet den Mangel an Moralität nicht kompensieren kann. Schaller aber sieht weiter, wenn er im Gebet eine Quelle von Handlungsfähigkeit sieht. Echtes Gebet ist in der Tat tiefere Übernahme von Verantwortung, aber nicht nur in dem Sinn, dass der Mensch in der Ausrichtung auf Gott sein Verantwortungsbewusstsein schärft,8 sondern auch in dem Sinn, dass es selbst bereits ein Akt der Moralität sein kann.

Das aufrichtige Wohlwollen anderen Menschen gegenüber kann auf unterschiedliche Weise Gestalt annehmen: Es kann sich manifestieren in Taten der Nächstenliebe, in Bekundungen von Solidarität, im Vergeben von Schuld oder im Gedenken an die Verstorbenen. Genauso aber kann es sich manifestieren im Fürbittgebet. Hier treten die Betenden vor Gott für das Wohlergehen der Menschen ein. Dies ist bereits eine Form von Solidarität – noch vor weiteren Taten, selbst wenn natürlich richtig ist, dass es sich in weiteren Taten bewähren muss. Beim Fürbittgebet handelt es sich um die bewusste Artikulation von Solidarität: Die Bitte ist nicht Ersatz für das Handeln, sondern selbst schon ein Handeln.

Das Gebet als Zeichen für Gemeinschaft

Dass selbst das einsame Gebet ein Zeichen für die Gemeinschaft der Gläubigen ist, hat Dietrich Bonhoeffer eindrucksvoll herausgestellt. Nach Bonhoeffer leben die Gläubigen nicht aus sich selbst, sondern aus der Gemeinde. So gehe die göttliche Gnade ungeahnte Wege:
«Die Fürbitte ist wie jedes andere Gebet kein Gottzwingen, aber – wenn Gott selbst das letzte tut, dann kann ein Bruder den anderen erlösen, in Kraft der Gemeinde. Damit ist das ethische Selbstbewusstsein des Menschen gegenüber dem Nebenmenschen endgültig abgetan. Er kann sich als Christ nicht seiner Einsamkeit mit Gott rühmen, seine Kraft kommt ihm aus der Gemeinde, und nie wird er wissen, wieviel sein eigenes Gebet tat und was die inbrünstige Fürbitte von Unbekannten eintrug. Er weiss sich in unendlicher Dankbarkeit nicht nur Gott, sondern der Gemeinde gegenüber, die für ihn betete und immer noch betet. Zerbricht das ethische Selbstbewusstsein Gott gegenüber zunächst an der stellvertretenden Liebe Christi am Kreuz, so stirbt es restlos unter der Betrachtung der Fürbitte, d. h. der Gemeinde.»9  

In Kraft der Gemeinde kann ein Bruder den anderen erlösen, ohne ihn unbedingt zu kennen, ja ohne selbst je um sein erlösendes Handeln zu wissen. Nach Bonhoeffer tut dies einerseits jeglicher Selbstgerechtigkeit Abbruch, weil gnadenhaftes Wirken nicht mehr zugeordnet werden kann. Andererseits erfülle es die Gläubigen mit unendlicher Dankbarkeit, weil ihnen von der Gemeinde her ganz unerwartet Hilfe zufliesse.

Das Gebet des Papstes

Das Gebet des Papstes vor Ikone und Kreuz hat in diesem Sinn einen Raum für die Klage eröffnet – und zwar gerade deswegen, weil Menschen auch schon Jahrhunderte vorher vor ihnen niedergekniet sind. Es war eine Quelle der Hoffnung: Durch die Gottesmutter und den Gekreuzigten wird der göttliche Heilswille vergegenwärtigt, der die Gläubigen wieder hoffen lässt – auf die Heilung der Kranken, auf die Auferstehung der Toten, auf das Ende der Pandemie. Es war ein Akt der Solidarität. Und schliesslich hat es den Gedanken an eine Gemeinschaft geweckt, in der der Fürbitte von Unbekannten rettende Kraft zugetraut wird.

Margit Wasmaier-Sailer

 

1 Witte, Stefanie, Interview mit Magnus Striet. Frage an den Theologieprofessor: Wie kann Gott Corona zulassen?, in: Neue Osnabrücker Zeitung vom 08.04.2020.

2 Höhn, Hans-Joachim, Beim Wort genommen. Über die Zwecklosigkeit des Betens, in: Striet, Magnus (Hg.), Hilft beten? Schwierigkeiten mit dem Bittgebet, Freiburg i. Br. 2010, 59–86, hier 61.

3 Vgl. ebd. 61.

4 Karrer, Otto, Gebet, Vorsehung, Wunder. Ein Gespräch, Luzern/Leipzig 1941, 54.

5 Vgl. Rahner, Karl, Das Gebet der Not [1947/49], in: ders., Von der Not und dem Segen des Gebetes, Freiburg i. Br. 1977, 65–77, hier 73f.

6 Schaller, Hans, Das Bittgebet und der Lauf der Welt, in: Greshake, Gisbert / Lohfink, Gerhard (Hg.), Bittgebet – Testfall des Glaubens, Mainz 1978, 54–70, hier 59.

7 Vgl. ebd. 58;

8 Vgl. ebd. 58.

9 Bonhoeffer, Dietrich, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche [1930]. Hg. von Joachim von Soosten, München 1986, 125.

Neuerscheinungen zum Thema
Sie finden auf unserer Webseite www.kirchenzeitung.ch Rezen­sionen von Dr. Wolfgang Broedel zu folgenden Neuerscheinungen:

  • Striet, Magnus, Theologie im Zeichen der Corona-Pandemie. Ein Essay, Mainz 2021.
  • Körner, Reinhard, Was mich bewegt. Unsere Chance in einer schweren Zeit, Leipzig, 2021.
  • Kasper, Walter Kardinal / Augustin, George (Hg.), Christsein und Corona-Krise. Das Leben bezeugen in einer sterblichen Welt. Mit einem Geleitwort von Papst Franziskus, Mainz 42021.

Margit Wasmaier-Sailer

Prof. Dr. Margit Wasmaier-Sailer (Jg. 1975) studierte Philosophie an der Hochschule für Philosophie SJ in München und katholische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 2008 bis 2018 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Exzellenzclusters «Religion und Politik» in Münster. Seit 2019 ist sie Professorin für Fundamentaltheologie und seit 2023 Dekanin der Theologische Fakultät an der Universität Luzern.

 

BONUS

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