SKZ: Was fasziniert Sie am Instrument Orgel?
P. Theo Flury: Die ursprüngliche Faszination bestand wohl darin, dass die Orgel in ihren Dimensionen die Grösse des Spielers oder der Spielerin bei Weitem übersteigt. Der Mensch ist klein und oft unsichtbar, wenn er spielt. Die Orgel hingegen entfaltet eine gewaltige Klangfülle, sie verbindet sich mit dem Raum. Diese Klangfülle sprengt Gewohntes und erschliesst Geahntes. Die Begegnung mit der Orgel wurde mir zum Sinnbild für die Begegnung mit dem Transzendenten. Der transzendente, unendliche, ewige Gott und der begrenzte Mensch. Diese Erfahrung habe ich bereits als Bub gemacht.
Heute spricht man oft von einer Banalisierung der Kirchenmusik.
Ich möchte zwei unterschiedliche Gesichtspunkte erwähnen. Der erste ist jener eines Prälaten, den ich anlässlich einer Firmung fragte, welche gottesdienstliche Musik er denn für angemessen halte. Er antwortete kurz und trocken: «Die Musik, welche die Leute kennen und können.» Der zweite Gesichtspunkt ist jener meines verehrten Kompositionslehrers Maestro Domenico Bartolucci, der während der Amtszeit von fünf Päpsten Kapellmeister der Capella Sistina in Sankt Peter war. «Non dobbiamo accontentare il popolo, ma educarlo.» Wir müssen die Leute nicht zufriedenstellen, sondern sie erbauen.1 Eine ähnliche Spannung ist im Zusammenhang mit der Wortverkündigung festzustellen: Es gibt immer mehr traditionelle Glaubensinhalte und Glaubenszusammenhänge, die die Menschen nicht mehr unmittelbar verstehen. Nehmen wir nun Mass an dem, wovon wir glauben, die Menschen würden das ohne Weiteres nachvollziehen können? Oder stellen wir uns der Herausforderung, Menschen abzuholen und ihnen etwas zu vermitteln, das über das hinausreicht, was ihnen bereits vertraut ist? Versuchen wir, nicht ins Banale abzugleiten, aber auch nicht abzuheben. Es gibt andere Wege.
Sie sagten in einem Vortrag: «Musik muss ein Produkt sein, keine Summe.»
Die Summe ist das Ergebnis einer Addition. In einer Komposition würden so einzelne Ideen unverwoben nebeneinandergestellt. Das Produkt hingegen ist das Ergebnis einer Multiplikation, es handelt sich also bereits um eine etwas komplexere Angelegenheit. Die Addition ist geometrisch gesehen eine Linie. Das, was an der Musik eindeutig linear ist, ist eigentlich nur die chronologische Zeit, die unbeirrt weiterläuft. Aber die Musik muss diese chronologische Zeit überlisten, meine ich, von der Linie weggehen und zu einem Raum werden, in dem ich mich bewege und in dem die Zeit scheinbar stillstehen kann. Gute Musik ist, wenn man am Ende eines Konzerts denkt: «Aber es hat doch gerade erst begonnen!». Insofern kann auch hier die Musik wieder zum Symbol für die Transzendenz werden, für das Übersteigen des Messbaren, Begreifbaren. Im Lied von Silja Walter wird das schön ausgedrückt: «Eine grosse Stadt ersteht, die vom Himmel niedergeht in die Erdenzeit …» Diesen Eindruck hatte ich, als ich als Vierzehnjähriger im Berner Münster mein erstes grosses Konzert erleben durfte: die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Als ich den Chor «Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen, sehet, wen? den Bräutigam, seht ihn, wie? als wie ein Lamm» hörte, schien mir eine Stadt vom Himmel auf die Erde herniederzukommen. Mir wurde mit einem Schlag bewusst: Das, was jetzt eben herniederkommt, was geschieht, ist wirklicher als die Bank, auf der ich sitze. Meine Klavierlehrerin hatte nie viel vom Glauben gesprochen. Doch vor dem Konzert hatte sie mich zu einer ausserordentlichen Stunde eingeladen und mir die Partitur der Matthäuspassion erklärt. Dabei hielt sie plötzlich inne und sagte: «Schau, ohne den Glauben wäre unser Leben doch nichts.» Sie blickte mich an, und ich sah für einen kurzen Augenblick in ihre Seele, und sie wohl in die meine. Noch nie hatte ich eine solche Nähe erlebt und wusste: Das ist wahr! So besuchte ich das Konzert und erinnerte mich an alles, was mir zuvor darüber gesagt worden war. Dann erlöste und beglückte die Musik die erwartungsgespannte Stille ... Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich davon erzähle. Da habe ich gemerkt: Es gibt kein Zurück mehr.
Sie sind später selbst Komponist geworden.
Man komponiert, weil in einem drin etwas das einfach will. Dann hat man keine Wahl. Es ist seltsam: Ich habe in meinem Leben an verschiedenen Fronten meine Kämpfe ausgefochten. Aber was die Musik anbelangt, sind immer alle Türen wie von selbst aufgesprungen, unverdient und ungewollt. Alle meine grösseren Kompositionen seit meiner Rückkehr nach dem Studium aus Rom 1988 wurden ausnahmslos von jemandem in Auftrag gegeben. Für die Organisation und die Finanzierung haben jeweils die Auftraggeber selbst gesorgt, dafür bin ich wirklich sehr dankbar. Meine aufwendigste Komposition – sowohl hinsichtlich des Umfangs als auch der investierten Zeit – wird am 18. Juni in Einsiedeln aufgeführt werden: Das Oratorium «Splendor» (Abglanz) für Soli, zwei Chöre, Orchester und Orgel. Der Inhalt ist die Heilsgeschichte, der umfassende Bogen von der Schöpfung bis zur Vollendung.
Bei einem Stück, das einen solchen «Aufwand» voraussetzt, ist es nicht sicher, dass es nochmals aufgeführt wird. Wie geht es Ihnen damit?
Der Komponist Franz Rechsteiner sagte einmal: «Eine Uraufführung ist oft gleichzeitig eine Beerdigung.» Dass Taufe und Beerdigung zusammenfallen, das kann sein. Allerdings setze ich zwei Vorbehalte. Erstens liegt die kodifizierte Musik, also der Notentext, vor. Heute kann man dem Notentext einen Tonträger mit der Aufführung beilegen. Zweitens: Wenn etwas nicht mehr ist, ist es nicht gleichbedeutend mit: «Es war nie.» Etwas ist bleibend anders geworden. Denken wir an das Bibelwort: «Maria aber bewahrte alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.» Ich habe zehn Jahre lang die zu vertonenden biblischen, liturgischen und poetischen Texte des erwähnten Oratoriums in meinem Herzen bewegt – und mein Herz ist dadurch gewiss anders geworden. Das, mit dem wir uns beschäftigen, hinterlässt Spuren.
Bietet die Liturgie des Novus Ordo einem Komponisten genügend Spielraum?
Ja, dieser Spielraum wurde aber bisher meines Erachtens noch zu wenig ausgeschöpft. So hat sich beispielsweise der Antwortpsalm in den Schweizer Pfarreien fast nirgends durchgesetzt. Es häufen sich nicht selten «liederliche» Gottesdienste: Lieder, Lieder, Lieder, man wartet vergeblich auf responsoriale oder alternierende Gesänge, auf Litaneien und Rufe – einfach nur Hymnen mit Strophen. Das entspricht nicht den Vorgaben der Liturgie. Musik sollte ein Teil des Ritus sein, also nicht Musik in der Liturgie, sondern Musik der Liturgie. In diesem Zusammenhang möchte ich auf drei Gefahren eingehen, die, wie ich meine, kirchenmusikalisch im Zusammenhang mit dem Novus Ordo drohen können. Erstens: Es sind mehrfach einheitliche Kompositionen entstanden, in welchen alle musikalischen Teile einer Eucharistiefeier fachgerecht vertont worden sind. Den Texten und Formen wurde Rechnung getragen. Nicht selten aber wurde durch den Stil oder den Schwierigkeitsgrad die Gemeinde überfordert. Zweitens: Der grösste Teil des kirchenmusikalischen Repertoires bis etwa 1970 ist auf den Vetus Ordo zugeschnitten. Viele Musikerinnen und Musiker möchten begreiflicherweise diese grossartigen Kompositionen auch im Novus Ordo unterbringen. Die wunderschönen Motetten und Ordinarien mit ihrem langen Sanctus und Benedictus passen allerdings schlecht in den Novus Ordo. Es ist dann so, dass der Rhythmus der Musik den Rhythmus des Ritus bestimmt. Das ist falsch, es muss umgekehrt sein. Es verhält sich dann wie mit einem Kleid, das für einen anderen Leib massgeschneidert wurde, und das jetzt nicht mehr wirklich passt. Meines Erachtens wäre es kein Problem, wenn man ab und zu die Messe im Vetus Ordo mit der dazugehörenden Musik feiern würde. Für mich wäre dies offen gestanden weniger ein liturgischer Tourismus als vielmehr eine spirituelle Wallfahrt. Das geht aber, wie wir wissen, im Moment schlecht. Drittens: Eine das liturgische Geschehen verzerrende Ausuferung besteht darin, grosse Messen innerhalb einer Liturgie «aufzuführen»: Der ganze Chorraum wird vom Orchester und den Chören belegt, der Dirigent steht im schwarzen Frack wie ein schwebender Hohepriester auf einem Podium, während der Priester in Tunika und verrutschter Stola im Halbdunkel des Mittelgangs an einem Katzentischchen steht und dort nach dem Sanctus eine verkürzte Form des Zweiten Hochgebets stottert. So sollte es nicht sein. Ich würde mir wünschen, dass in jeder Diözese eine wichtige Kirche besonders mit der liturgischen Pastoral betraut werden könnte, eine Kirche, die Vorbildfunktion hätte hinsichtlich der Sorgfalt im Umgang mit den Fragen, welche die «ars celebrandi», die Verkündigung, die Kirchenmusik im Besonderen und die kirchliche Kunst im Allgemeinen betreffen. Von dort könnten dann wichtige Impulse ausgehen.
Interview: Rosmarie Schärer