SKZ: Warum haben Sie sich für die Dogmatik entschieden, die oft als starr wahrgenommen wird?
Wolfgang Müller: Als ich mein Grundstudium begann, war ich relativ offen. Mit dem Tod von Hans Küng kam mir in Erinnerung, dass sein Buch «Christ sein» eines der ersten theologischen Bücher war, die ich in meiner Gymnasialzeit gelesen habe. Damals hörte ich einen Vortrag von Hans Urs von Balthasar, da ich wusste, dass er berühmt ist – verstanden habe ich aber nichts. In meinem ersten Semester in Freiburg i. Br. wurde mir gesagt, ich solle ein Seminar von Bernhard Welte besuchen, da er emeritiert würde – auch hier habe ich nichts verstanden (lacht). In meinem Grundstudium haben mir Dozierende dieses Gebiet eröffnet. Von daher würde ich sagen: Ich bin zur Dogmatik einerseits aus einem intellektuellen Interesse gekommen, andererseits durch ein Kennenlernen von Personen, die dieses Fach vertreten haben. Es stimmt, dass Dogmatik als starr wahrgenommen wird, es war aber immer mein Bestreben, in meinen Vorlesungen aufzuzeigen, dass dies ein Missverständnis des Faches ist. Das ist sozusagen die existenziellere Note dabei.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Dogmatik?
Die Dogmatik hat sich stark gewandelt, insofern man nicht nur das klassische Gerüst, die Traktate, nimmt, sondern eben auch – und das ist für meine Arbeit wichtig geworden – eine starke Interdisziplinarität. Wir sind heute kirchlich in einer grossen Umbruchsituation. Wenn wir ehrlich sind, weiss im Moment niemand, wo es genau hingeht. Wenn ich die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts anschaue, war es damals ähnlich. Im Nachhinein kann man natürlich sagen, das hat sich so entwickelt, aber in dem Moment, in dem man drinsteht, hat man einfach mehrere Optionen. Angesichts der heutigen Pluralität sucht man wieder vermehrt nach dem Wesentlichen. Daneben besteht eine gewisse Indifferenz religiösen Dingen gegenüber sowie ein Bashing der Institution. Es ist alles so ein Gemisch. Das habe ich als Dogmatiker immer als Herausforderung empfunden. Denn es ist einerseits unsere Aufgabe, die Schule zu vermitteln, andererseits auch, die zeitgeschichtliche, kulturelle und gesellschaftliche Situation anzugehen.
Christian Levrat meinte, er hätte viel von den Thomisten gelernt. Wird Thomas von Aquin heute unterschätzt?
Er führt im deutschen Sprachraum eher ein Schattendasein. Wogegen man sich im Schulbetrieb wehrt, ist ein platter Thomismus. Dass die Person und das Werk des Thomas interessieren, wundert mich nicht. Das kommt immer wieder vor. In der Renaissance des katholischen oder christlichen Glaubens im 19. Jahrhundert gab es auch eine Hinwendung zu Thomas. Auf der einen Seite ist seine Lehre genauso zeitbezogen wie jedes andere Theologenkonzept, auf der anderen Seite hat er die Herausforderung der damaligen Zeit angenommen und hat eben für diese Sichtweise eine Synthese entworfen, die natürlich fasziniert: Bei ihm hat alles seinen Platz und das in einer gewissen Autonomie von der christlichen Rezeption des Aristotelismus. Im deutschen Sprachraum kommt noch etwas der «antirömische Affekt» dazu. Wichtig scheint mir – und das habe ich in meiner Lehre auch immer wieder versucht –, dass man dogmatisches Denken an grossen Entwürfen lernt. Das Dogmatische will einen Zusammenhang für das Glaubensverständnis. Das ist herausfordernd und intellektuell interessant.
Sie haben die Otto-Karrer-Vorlesungen eingeführt.
Otto Karrer hatte eine bewegte Lebensgeschichte und lebte in Luzern im Exil. Er hatte eine sehr grosse schriftstellerische und journalistische Tätigkeit. Von der Schultheologie und auch vom Bischof von Basel war er wegen seiner Gedanken zur Ökumene unter Verdacht, auch wegen der Predigten, die er hier in Luzern gehalten hat. Nach seinem Tod 1976 initiierte der damalige Regierungsrat Walter Gut einen Freundeskreis. Und dann trat dieser Freundeskreis 2002 an die Theologische Fakultät Luzern heran und fragte, wie man das Gedächtnis an dieses theologische Werk für die Ökumene, auch für die Ökumene der Schweiz, in Erinnerung halten könnte. Die Fakultät gebar die Idee der «Memorial Lecture» und vertraute dies der Professur Dogmatik an. Daraus habe ich die Otto-Karrer-Vorlesungen entwickelt. Dabei ging es mir einerseits darum, die ökumenische Dimension wachzuhalten, aber andererseits auch darum, was man in seinem Werk sehen kann: den Kontakt mit der Welt, mit der Gesellschaft, in der wir als Christinnen und Christen, als Kirche stehen. Und das ist auch das Reizvolle an diesen Vorlesungen: Jede Vorlesung hat ihr eigenes Gepräge.
Sie sind auch Leiter des Ökumenischen Instituts. Wie beurteilen Sie die Situation der Ökumene?
Die Ökumene ist im Moment in der Krise. In der Geschichte der Ökumene spielen mehr aussertheologische Faktoren eine Rolle, als man sich zugesteht. Die unterschiedlichen Punkte liegen dabei nicht nur in der Theologie. Ich bin der Meinung, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert für die Ökumene war. Aktuell tritt die Ökumene etwas zurück zugunsten des interreligiösen Dialogs. Gleichzeitig zeigt sich einerseits – in unseren Breitengraden mehr für die deutschsprachigen Länder –, dass einfach aufgrund der Minderung des Interesses der Gesellschaft für Kirche die Frage nach der Ökumene nicht mehr im Vordergrund steht. Auf der anderen Seite sehen wir natürlich Bewegungen in den christlichen Kirchen mit einer stärkeren Rückbesinnung. Einen «Zurück-Schritt» wird es nicht geben. Es braucht immer Zeit, bis etwas im Volk Gottes, der Kirche angekommen ist. Eine Umsetzung ist ein dynamischer Prozess. Vielleicht kommt nach den grossen Aufbrüchen jetzt eine ruhige Phase und dann geht es wieder vorwärts.
Sie haben sich in den letzten Jahren viel mit Musik und Theologie beschäftigt.
Das Interesse für Musik war schon immer da. Als ich nach Luzern gekommen bin – und Luzern steht ja für Musik –, gab es schon die Zusammenarbeit zwischen der Akademie für Schul- und Kirchenmusik, heute Hochschule Luzern – Musik, und der Theologischen Fakultät. Diese Zusammenarbeit habe ich ausgebaut. In der systematischen Theologie sind wir bezüglich der Interdisziplinarität sehr weit in der Literatur und der bildenden Kunst, die Musik hingegen wurde stiefmütterlich behandelt. Im kirchlichen Leben, in der liturgischen Praxis, spielt die Musik immer eine Rolle. Die Musik ist von allen Künsten die immateriellste und darum vielleicht auch die geeignetste, was Glaube und Transzendenz angeht. Aber gleichzeitig ist sie in gewisser Weise auch die subversivste. Es ist interessant, dass die abrahamitischen Religionen nicht nur ein striktes Bilderverbot, sondern auch Vorbehalte gegenüber der Musik kennen. Doch die Musik ist eine ganzheitliche Angelegenheit und sie kann die ganze Palette unserer Befindlichkeiten ausdrücken. Die Dimension der ästhetischen Theologie fing im 19. Jahrhundert an und zeigte sich unter anderem bei Matthias Joseph Scheeben. Dann findet man sie unter anderem bei Hans Urs von Balthasar. Von ihm gibt es einen kleinen Artikel mit einer theologischen Deutung des Abschiedsterzetts aus der Zauberflöte von Mozart.1 Die kirchliche Tradition hatte für die Entwicklung der Musik, zumindest in unseren Breitengraden, eine enorme Bedeutung. Bei meiner Arbeit habe ich gesehen, dass Komponieren eine laikale Theologie ist. Komponisten verstehen ihre Werke als ein Ausdruck oder eine Situierung ihres Glaubens. In meinen Monografien2 habe ich exemplarisch Komponisten für jeweils ein Jahrhundert gewählt, die sich aus ihrer Perspektive und nicht als Theologen mit der Theologie ihrer Zeit auseinandergesetzt haben. Sie gehen als Glaubende oder Suchende oder Zweifelnde an die Komposition heran. Das ist ein interessantes Gebiet.
Haben Sie schon konkrete Pläne für die Zeit nach der Emeritierung?
Zunächst werde ich eine Auszeit nehmen. Ich denke, dass man eine solche Zäsur bewusst leben soll. Es ist eben etwas anderes, da muss ich erst hineinkommen. Als Dominikaner geht natürlich der Predigtdienst weiter, und was ich von meinem Lehrbetrieb mitnehme, ist die theologisch-systematische Beschäftigung mit der Musik.
Interview: Rosmarie Schärer