Jeder Weiler in Visperterminen besitzt seine eigene Kapelle. Die Fusswege vom Tal bis auf die Gipfel säumen kleinere Kapellchen oder Opferstöcke. Die sogenannten Sacri Monti (Heiligen Berge) haben ihren Ursprung im Piemont und der Lombardei. Dort sind es neun weitläufige Kapellenanlagen und andere Pilgerstätten, die im späten 16. und 17. Jahrhundert auf Bergen und an Seen errichtet und jeweils bestimmten Aspekten des christlichen Glaubens geweiht wurden. In Visperterminen führt der Kapellenweg über eine Reihe von zehn historischen Kapellen hinauf zur Waldkapelle Maria Heimsuchung.
Inmitten von hohen, knorrigen Wettertannen liegt idyllisch das Juwel des Walliser Kapellenwegs, die Waldkapelle. Die Jahreszahl 1652 und das Monogramm CR prangen am Sturz des Haupteinganges. Die Jahreszahl belegt damit das Bestehen dieser Wallfahrtskapelle schon seit Mitte des 17. Jahrhunderts. Mit CR ist wohl der aus Rima (I) stammende Prismeller1 Christian Ragutz gemeint.
Die mündliche Überlieferung will hier am Weg in der Nähe einer Quelle von einem Gnadenbild in einer gehöhlten Tanne wissen, zu welchem man totgeborene Kinder brachte, um die Gnade der Wiederbelebung zu erlangen und das Kind bei einem Lebenszeichen taufen zu können.2
Eine bewegte Geschichte
Im späteren 17. Jahrhundert wurde der Kapellenweg, der vom Dorf Visperterminen direkt hinauf zur Waldkapelle führt, erbaut. Das kleine Gotteshaus hat eine im wahrsten Sinne des Wortes bewegte Geschichte:
Zwischen 1730 und 1740 errichtete man 200 Meter nordöstlich der Waldkapelle eine prachtvolle neue Kapelle, von der heute nur noch die Ruine übrig ist, denn 1756 riss ein Erdbeben bedrohliche Breschen in die Mauern. Der darin befindliche Hauptaltar stellte den glorreichen Rosenkranz dar. 1823 musste er wegen Einsturzgefahr entfernt werden und steht heute als Hauptaltar in der Pfarrkirche von Visperterminen. Damit wurde der Bau nurmehr zur Gnadenkapelle. Fast genau 100 Jahre nach dieser Erdbebenkatastrophe setzte ein weiteres Erdbeben 1855 auch der alten (heutigen) Kapelle verheerend zu. Das Gewölbe stürzte ein und begrub zahlreiche Statuen, Gemälde und Exvotos.
Prunkvolles Inneres
Betritt man das kleine Gotteshaus, fällt der Blick unweigerlich auf die Kreuzigungsgruppe im Chorbogen. Der monumentale Hochaltar von 1665 zeigt in seinem Zentrum die Aufnahme Mariens in den Himmel und ist ein Meisterwerk der Spätrenaissance. Ebenso prachtvoll ist der Altar mit der Marienkrönung in der linken Seitenkapelle. Der Altar der rechten Seitenkappelle, der durch ein kunstvolles Gitter aus dem Jahre 1654 geschützt ist, wurde 1691 von Johann Sigristen (1653–1710) aus Brig-Glis geschnitzt. Die «Hauptdarstellerin» in dieser Kapelle ist die kleine Muttergottesstatue mit dem Jesuskind. Sie ist von einem Wolkenkranz umrahmt und wird als das eigentliche Gnadenbild verehrt. Eine Besonderheit ist das Orgelwerk, das ins 16. Jahrhundert (evtl. 1563) zurückreicht und zu den ältesten noch spielbaren Orgeln der Welt zählt.
Die Pflege und die Reinigung der Kapelle besorgt der jeweilige Kapellenvogt der Pfarrei Heidadorf. Er wird vom Kirchenrat jeweils für ein Jahr gewählt, und diese Aufgabe gilt als ein Ehrenamt.
Apropos: Nach dem doch etwas schweisstreibenden Aufstieg zur ruhevollen Waldkappelle lohnt es sich, grad noch einen draufzusetzen und noch ein bisschen höher zu steigen: Entlang der romantischen Suonen (alte Bewässerungskanäle) führt der Weg zurück nach Visperterminen, wo sich Wein (der berühmte Heida) vom höchsten Weinberg Europas (1150 m) degustieren lässt.
Brigitte Burri