SKZ: Frau Gambino, welches sind die zentralen Anliegen und Ziele dieses besonderen Jahres?
Gabriella Gambino: «Amoris Laetitia» (AL) ist die Frucht des synodalen Prozesses, der neue Bedürfnisse der Familien aufzeigte. Das Jahr «Familie Amoris Laetitia» ist eine wertvolle Gelegenheit, die Früchte dieses Prozesses nicht nur in den verschiedenen kirchlichen Kontexten reifen zu lassen, sondern auch in den Familien selbst. In AL 200 steht, dass es «eines evangelisierenden und katechetischen Bemühens» bedarf, «das auf das Innere der Familie gerichtet ist», um Familien zu handelnden Subjekten der Familienseelsorge zu machen. Das Schreiben benennt auf der einen Seite die konkrete Realität der familiären Beziehungen. Auf der anderen Seite offenbart es sich als ein echtes Programm für das pastorale Engagement und fördert eine methodische und inhaltliche Erneuerung der Seelsorge, um diese stärker an die aktuellen Bedürfnisse der Familien in den verschiedenen kirchlichen Kontexten anzupassen.
Was darf die Kirche in diesem Jahr an Impulsen und Aktionen erwarten?
Das besondere Jahr ist ein hervorragender Anlass, die Schönheit dieses Schreibens den Familien bekannter zu machen. Denn die meisten Familien kennen es immer noch nicht. Wir hoffen, dass Pfarreien, Bewegungen und Gemeinschaften pastoral kreativ werden und den Familien ermöglichen, «Amoris Laetitia» kennenzulernen, über das Gelesene nachzudenken und miteinander die familiären Herausforderungen zu teilen. Die Familien sollen die Nähe der Kirche spüren und sich in ihrem Alltag ermutigt fühlen. Familien brauchen Gemeinschaft. Unser Dikasterium wird einige sehr einfache pastorale Hilfen bereitstellen. Besonderes Augenmerk wird auf den Dialog zwischen den Generationen gelegt: Am 25. Juli wird der erste Welttag gefeiert, der Grosseltern und älteren Menschen gewidmet ist und Anlass sein soll, die Familie zu einem Generationentreffen zu versammeln. Auf akademischer Ebene nutzen katholische Universitäten, die sich familienpolitischen Fragen verschrieben haben, bereits dieses Aktionsjahr, um die Förderung der ehelichen Familie in der Gesellschaft, in der Politik, in den Wirtschaftssystemen wieder in den Mittelpunkt ihres Engagements zu stellen. Mittel- und langfristig muss dringend eine stabile Familienkultur gebildet werden. Die Familie ist ein privilegierter Ort für die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Generationen und für den Schutz verletzlicher Menschen. Die Familie ist ein Motor des Gemeinwohls und muss auf allen Ebenen, auch auf kultureller und sozialer Ebene, unterstützt werden.
Was erhoffen Sie sich in diesem Familienjahr an Wirkungen in der Familienpastoral der Diözesen, Pfarreien und Bewegungen?
Ich hoffe, dass wir einen Stil implementieren können, der eine authentische kirchliche Gemeinschaft zwischen den Berufungen und Lebensständen zum Ausdruck bringt, besonders zwischen Priestern und Familien, Priestern und Ehepartnern. Die Mitverantwortung der Eheleute an der kirchlichen Sendung, die sie gemeinsam mit den geweihten Amtsträgern innehaben, liegt in der Taufe begründet. Diese Mitverantwortung ruft alle zu einer gemeinsamen Zielsetzung und einem gemeinsamen Stil auf, jede und jeder gemäss der eigenen Berufung und Gnade. Und dies sollte sowohl in den Diözesen als auch in den Pfarreien geschehen. Die Beteiligung der Familien kann intensiviert werden, indem man die Ehepaare auch in die Pastoralplanung einbezieht und diese übergreifend gestaltet, d. h. die Kinder-, Alten-, Jugend- und Verlobtenpastoral in einen Dialog bringt, um jene getrennten Bereiche zu überwinden, die viele Jahre lang die Wirksamkeit der Pastoral selbst begrenzt haben.
Welche Resonanzen hat die Ankündigung dieses Aktionsjahres in der Weltkirche ausgelöst?
Die Ankündigung des Jahres «Familie Amoris Laetitia» wurde mit Freude und Dankbarkeit aufgenommen. Wir erhielten positive Rückmeldungen aus der ganzen Welt, angefangen bei Bischöfen und internationalen kirchlichen Bewegungen bis hin zu Pfarreien und einzelnen Familien, die uns schrieben, um dem Heiligen Vater zu danken und ihre Bereitschaft kundzutun, sich für den Weg dieses Aktionsjahres zur Verfügung zu stellen.
Seit der Veröffentlichung von «Amoris Laetitia» sind in den Diözesen Handreichungen zu einer erneuerten Ehe- und Familienpastoral erschienen und Initiativen entstanden. Nennen Sie uns bitte ein paar Beispiele, die Sie besonders freuen! Von vielen Seiten wächst die Aufmerksamkeit für die Aspekte, die mit der Ehevorbereitung und der Begleitung der Eheleute verbunden sind und die allmählich zu Prioritäten für eine erneuerte Familienpastoral werden. Die Vorbereitung junger Menschen und verlobter Paare auf ihre eigene und echte Berufung, und nicht nur auf die Feier der Hochzeit, gewinnt jetzt an Priorität. Dabei ist es unabdingbar, von der Bedeutung der Taufe auszugehen, um die Gegenwart Christi im täglichen Leben der Eheleute zu erkennen und den jungen Menschen die Gewissheit zu geben, dass ihr Familienprojekt eine Antwort auf einen Ruf ist und dass dieses Projekt schön und möglich ist. In diesem Sinne haben viele Diözesen eine Überprüfung der Ehevorbereitungskurse gestartet, begonnen bei der entfernten Vorbereitung (mit Jugendlichen), über die nähere und unmittelbare. Diese Begleitung sollte dann auch in den ersten Jahren nach der Hochzeit weitergehen, um die Eheleute nicht alleine zu lassen, wenn die Kinder geboren werden und die ersten «Krisen» beginnen. Dies erfordert die aktive Beteiligung von Ehepaaren als Mentoren für verlobte Paare und junge Ehepaare. Darüber hinaus sollten Ehepaare stärker in die Ausbildung der Seminaristen einbezogen werden. Zudem ist den Seminaristen zu ermöglichen, Erfahrungen im Familienapostolat zu sammeln. Auch ist es notwendig, über die Beziehung zwischen dem Weihesakrament und dem Ehesakrament in der Kirche vertieft zu reflektieren, um eine integrierte Familienpastoral zu etablieren. Ein solche sieht sich in der Mitverantwortung für die Berufungen zum Priestertum und zur Ehe.
«Amoris Laetitia» ist reich an Impulsen. Welche erachten Sie gerade angesichts der Pandemie für die heutige Zeit als besonders wichtig?
Die Pandemie hat bestehende Probleme sichtbar gemacht, die die grosse Mehrheit der Familien auf der ganzen Welt betreffen. Sie tauchen jetzt mit grösserer Dringlichkeit auf. Es sind Fragen des täglichen Lebens, die enorme Auswirkungen auf das Leben der Familien haben, besonders auf die jüngere Generation. Im Blick auf die Kirche stellt sich die Frage, wo sie Unterstützung anbieten kann. Das Thema der Unterscheidung, das uns «Amoris Laetitia» nicht nur für die komplexesten Familiensituationen empfiehlt, ist für mich ganz allgemein als Stil des Familienlebens und der kirchlichen Reflexion von grundlegender Bedeutung. Wir alle müssen lernen, in unserem täglichen Leben aus ständiger Unterscheidung heraus zu handeln. Hierfür ist es notwendig und dringend, pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Priester auszubilden, die den Herausforderungen gewachsen sind und wissen, wie sie Familien in menschlicher, sozialer, psychologischer und pädagogischer Hinsicht, aber auch und vor allem in spiritueller Hinsicht begleiten können.
Das Thema des Weltfamilientreffens in Rom – «Familienliebe: Berufung und Weg zur Heiligkeit» – legte Papst Franziskus fest. Welches Anliegen liegt ihm besonders am Herzen?
Das Thema des zehnten Weltfamilientreffens erinnert uns daran, dass das christliche Familienleben eine Berufung und ein Weg zur Heiligkeit ist, «das schönste Gesicht der Kirche» (Gaudete et exsultate, 9). Diese kraft- und hoffnungsvolle Botschaft muss den Familien und von den Familien verkündet werden. Die Familien bezeugen in der Gesellschaft die Schönheit des Ehesakramentes, das Geschenk der Kinder, die Zärtlichkeit und die Bedeutung der Grosseltern. Sie erinnern vor allem daran, dass Jesus Christus uns auch in den grössten Schwierigkeiten zum Vertrauen und zur Hingabe aufruft. Im Blick auf das Welttreffen hoffen wir, dass die Vorbereitungen mit den Familien auf lokaler Ebene eine Gelegenheit für Schwung und Engagement sind. Es ist dringend notwendig, dass Familien jungen Menschen Zeugnis geben von der Schönheit der Familienliebe, um ihnen Hoffnung zu schenken und ihnen zu helfen, ihren Wunsch nach Familie und Glück zu verwirklichen. Es ist zu zeigen, dass familiäre Beziehungen einen heilsamen Wert für die Menschen haben und ein Weg zur Heiligkeit sein können. Das Jahr ist eine besondere Einladung, Menschen mit Sanftmut und Barmherzigkeit zu begleiten, damit sie ihre christliche Berufung in allen Lebenslagen voll leben können. Letztlich geht es darum, Christus ganz konkret in das Leben eines jeden von uns zu bringen.
Interview: Maria Hässig