SKZ: Sie sind Professor für Altes Testament und Biblische Umwelt. Weshalb haben Sie sich für diesen Fachbereich entschieden?
Hans Ulrich Steymans: Ich habe mich schon als Kind für den Alten Orient interessiert, vor allem für das Zweistromland sowie die archäologischen Funde und die versunkenen Städte. Als ich in Bonn mit dem Theologiestudium begann, entdeckte ich, dass gerade das Alte Testament in diese altorientalischen Kulturen hineinführt und ich hier diese beiden Bereiche miteinander verbinden kann. In Wien kam dazu, dass Georg Braulik, ein Benediktiner, das Alte Testament stark theologisch auslegte. Ihm war sehr wichtig, Israel als Kontrastgesellschaft darzustellen. Ein Volk, das so ganz anders ist als die anderen Völker. Ein Volk, das den Sabbat hält, das besonderen Nahrungsvorschriften folgt oder auch eigene ethische Massstäbe besitzt. «So etwas tut man in Israel nicht» (2 Sam 13,2; vgl. Lev 13,18). Diese Kontrastgesellschaft wurde uns in Wien als Kirchenmodell vorgestellt: Gott fängt bei seiner Verwandlung der Welt mit einer Modellgesellschaft an, die sich nach der Thora, nach den Geboten und Weisungen für ein gelingendes Leben ausrichten und so eine geschwisterliche Gesellschaft unter Gott als Vater entwickeln soll. Dieses Modell soll für die anderen Völker anziehend wirken. Das führt dann zur Vision in Jes 2,2–4, wo sich die Völker gegenseitig auffordern: «Kommt, wir wollen hinauf ziehen zum Berg des Herrn, denn von dort kommt die Weisung (=Thora) des Herrn.» Dieses Modell hat mich immer fasziniert, auch weil es mir in meiner eigenen christlichen Existenz sagt, in welche Richtung sich Einzelne, religiöse Gemeinschaften, Pfarrgemeinden und die Weltkirche weiterentwickeln können. Und mich hat die Interdisziplinarität des Fachbereichs Altes Testament begeistert. Hier darf man in der Forschung so viele andere Felder einbeziehen: Altorientalistik, Archäologie, Alte Geschichte, Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Judaistik. Faszinierend ist zudem der ökumenische Aspekt des Alten Testaments, mit dem sich katholische, evangelische und jüdische Fachleute beschäftigen. Hier in Freiburg kommt als Forschungsschwerpunkt des biblischen Departements die Beschäftigung mit der Bildwissenschaft und der Kunstgeschichte hinzu.
Einer Ihrer Schwerpunkte in der Forschung ist das Deuteronomium.
Ja, meine Doktorarbeit habe ich über das Deuteronomium (Dtn) geschrieben und es ist ein Forschungsschwerpunkt geblieben. Ein Projekt, das ich nach der Emeritierung endlich angehen will, ist ein Kommentar in den «Zürcher Bibelkommentaren». Das Dtn ist gerade in seinen Gesetzen ein Entwurf einer geschwisterlichen Gesellschaft und somit auch ein Kirchenmodell. In diesem Modell wird z. B. die Leitung des Volkes auf vier Amtsträger aufgeteilt: auf den Priester, den König, den Propheten und auf den Richter. Richter können alle Männer sein (es ist natürlich eine männliche Gesellschaft) und so ist es eine Ermächtigung aller Mitglieder des Volkes, Verantwortung und ein Leitungsamt zu übernehmen. Mit dem Amt der Propheten versuchen die Ämtergesetze des Dtn, den charismatischen Aspekt, die Öffnung für das Wirken des Heiligen Geistes im Gottesvolk, in eine Amtsstruktur hineinzubringen. Das Interessante ist, dass auch eine Frau Prophetin sein kann. Diese Tatsache finde ich für unsere derzeitige kirchliche Situation wichtig. Für Fragen, die wir heute in der Kirche haben (z. B. Wer kann Ämter übernehmen?), sind im Dtn Modelle vorgegeben. Weiter behandelt das Dtn die Frage der Gerechtigkeit, auch die Frage nach dem Umgang mit anderen Völkern in einem Kriegsgesetz, das versucht, kriegerische Auseinandersetzungen zu deeskalieren. Es gibt sogar Umweltgesetze. Das Dtn ist zudem tief beeinflusst von der neuassyrischen Kultur. Und so kann ich immer ganz viel an Vergleichsmaterial wie Berichte von und über Prophetinnen aus Assyrien, Rechtstexte oder Königsinschriften aus dem Alten Orient heranziehen.
Neu gibt es einen weiteren Schwerpunkt…
Ein Grund, warum ich mich jetzt emeritieren lasse, ist meine Begeisterung für die Ökotheologie. In diesem Sommer war der Treibhauseffekt deutlich spürbar: Überschwemmungen und Hagel in West- sowie Brände in Südeuropa, ganz abgesehen von den Feuern, die schon seit Jahren in Kalifornien, Sibirien und Australien brennen. Mir ist es zum Anliegen geworden, mehr zu forschen, was das Christentum, was die Bibel dazu zu sagen hat. Norman Habel, ein Alttestamentler aus Australien, hat ein Forschungsnetzwerk ins Leben gerufen, an dem viele englischsprachige Biblikerinnen und Bibliker beteiligt sind. Die gesamte Ökotheologie ist heute weitgehend englischsprachig. Im deutschsprachigen Bereich ist leider seit den 90er-Jahren das Interesse ziemlich zurückgegangen, sodass an den Universitäten kaum jemand im Bereich von Ökotheologie forscht, ausser in der Sozialethik. Auch in der Kirchenpolitik wird das Umweltthema normalerweise
in die katholische Soziallehre oder in das katholische Engagement für Justitia et Pax eingeordnet. Ich möchte versuchen, die Ökotheologie unter den Theologinnen und Theologen mehr ins Gespräch zu bringen. Mein Plan wäre, auch im deutschsprachigen Raum ein Netzwerk zu schaffen und so alle, die in den verschiedensten Bereichen zu Umwelttheologie forschen, zu verbinden.
Geben Sie uns ein Beispiel eines ökotheologisch relevanten Bibeltextes?
Ein schöner Text ist Jes 14,4–21. Da jubeln die Zedern und die Bäume des Libanon, weil der Tyrann, und das ist vermutlich ein babylonischer oder assyrischer König, entmachtet ist, und sie sagen: «Seitdem du (tot) daliegst, steigt niemand mehr herauf, um uns zu fällen» (Jes 14,8). Dieser Text gibt den Pflanzen eine Stimme. Pflanzen werden zu Subjekten, die ihr Leiden – das Gefälltwerden – zur Sprache bringen. Das ist in doppelter Hinsicht interessant: Erstens sieht man hier bereits die Umweltzerstörung im Alten Orient. Denn der Libanon war früher ein Urwald und ist heute völlig verkarstet. Zweitens geht es um eine Machtfrage. Der Text sagt weiter: «Du hast dein Land zerstört, hingemordet dein Volk» (Jes 14,20). Hier kommt die Verbindung von Zerstörung der Umwelt und Entrechtung von Menschen, einer Politik mit katastrophalen ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen zum Ausdruck. Gerade die Ökotheologie geht einher mit «Eco justice». Jene, die unter den Auswirkungen des Klimawandels leiden, sind selten jene, die ihn verursachen. Der ökologische Fussabdruck der Sizilianer und der Griechinnen ist sicher einer der kleineren innerhalb der europäischen Gemeinschaft, und trotzdem waren sie jetzt von diesen Waldbränden betroffen. Die gleiche Verachtung für das Leben, die sich in der Umweltzerstörung und in der Ausbeutung der Natur zeigt, ist auch die Verachtung, die sich in der Entrechtung von machtlosen Bevölkerungskreisen zeigt. Wie man in Brasilien mit dem Urwald umgeht und wie man mit den Indios umgeht, sind zwei Seiten derselben Medaille.
Sie sind sehr jung in den Dominikanerorden eingetreten. Hatte Ihre Ordenszugehörigkeit Auswirkungen auf Ihre wissenschaftliche Tätigkeit?
Hundertprozentig! Besonders mit dem bereits erwähnten Aspekt der Kontrastgesellschaft. Jesus hat ja auch im Kontrast gelebt, gerade als Wandernder, mit dem Hochschätzen der Armut oder mit dem Ruf in die Nachfolge mit den evangelischen Räten. Die Kontrastexistenz des Volkes Gottes zeigt sich dann nochmals als eine Kontrastexistenz von Teilen des Volkes, z. B. der Frommen, die dann wiederum im Gegensatz stehen zu den Frevlern, die eher eine Lebensweise führen möchten, die den Wertvorstellungen der anderen Völker oder der «Welt» folgt. Das passt natürlich gut zu jemandem, der in einem Orden leben möchte. Gerade in den sogenannten evangelischen Räten Jesu zeigt sich das Kontrastleben im Gottvertrauen, dass eben Gott die Bedürfnisse des Lebens regelt, was sich in Armut (materielle Sicherung der Existenz), Ehelosigkeit (Sicherung des eigenen Fortlebens in Nachkommenschaft) und Gehorsam (Sicherung der eigenen Interessen und Macht) ausbuchstabiert.
Sie sind seit dem 1. August emeritiert.
Es ist für mich eine grosse Erleichterung, weil die vielen administrativen Aufgaben, die in den letzten Jahren merkbar zugenommen haben, nun wegfallen. Jetzt kann ich mich noch stärker den Projekten widmen, sowohl den Buchprojekten als auch der Ökotheologie. So soll noch der Tagungsband zur Ökotheologie der abrahamitischen Religionen in der Schweiz, dem 10. Religionsforum anlässlich des 30. Gründungstags des Vereins oeku Kirche und Umwelt, erscheinen. Dieser wird wesentlich über die Tagungsvorträge hinausgehen, da ich versucht habe, Forschende verschiedenster Glaubensrichtungen im In- und Ausland zu finden, um daraus eine Art Handbuch für Umwelttheologie zu machen, das umfassend über die verschiedenen Strömungen und Sichtweisen orientiert. Ganz abrupt ist der Abschied von der Universität nicht, da ich mich im nächsten Semester noch selbst vertrete und so präsent bleiben darf.
Interview: Rosmarie Schärer