Neun Jahre zählt Dante Alighieri, als ein Wunder in sein Leben tritt. Es lässt seine Seele so sehr beben, dass er später davon spricht, ab diesem Moment habe eine «vita nova», ein neues Leben, begonnen. Der Junge trifft die ein Jahr jüngere Beatrice, von der er sagt, sie habe nicht der Tochter eines Menschen, sondern einer Tochter Gottes geglichen. Die Liebe, die neun Jahre später in Dantes Herz wächst, erkennt in Beatrice ein Zeichen der Grösse Gottes; in der jungen Frau vereinen sich Schönheit und Tugendhaftigkeit. Dante sucht eine neue Sprache, die der Angebeteten gerecht wird. Die höfische Literatur, die Poesie der Troubadoure oder gar das Lateinische eignen sich dafür nicht. Dante sucht nach einer Form, die verständlich und elegant zugleich ist. Deswegen wendet sich der Florentiner dem «volgare», der Volkssprache zu und verfasst seine Liebesgedichte in der toskanischen Mundart. Die Entscheidung wirkt bis heute nach. Dante drückt als grösster Dichter Italiens der Kultur der gesamten Halbinsel unauslöschlich seinen Stempel auf. Die Geburt der italienischen Sprache ist eine geistige Liebesgeburt, an deren Anfang die Verehrung Beatrices steht. Und sie ist eine Geburt aus einem christlichen Ideal heraus. Die Zahl Neun ist dabei nur ein Fragment der komplexen Zahlenmystik im dantesken Universum, hinter dem die Trinität steht.
Ein christlicher Vergil
Die Neun und die Drei sind bestimmende Zahlen jener Gesänge, aus denen die Fortsetzung der «Vita Nova»1 besteht. In der Göttlichen Komödie trifft Dante wieder auf Beatrice. Sie ist es, die Dantes Reise durch die drei Ebenen des Jenseits – Inferno, Purgatorio und Paradiso – als engelhafte Figur auf den Weg bringt und ihm Mut zuspricht, als sich Dante mit dem römischen Dichter Vergil auf den Weg macht. In den neun Höllenkreisen, den neun Terrassen des Läuterungsberges und den neun Himmelssphären trifft der Dichter die bedeutendsten Gestalten der Weltgeschichte und Zeitgenossen. Das Epos mit seinen an die Aeneis Vergils anknüpfende Grösse, seinen nach Zahlengeheimnissen geordneten Gesängen, seiner theologischen Tiefe und kunstvollen Sprache erscheint der modernen Leserin, dem modernen Leser selbst wie eine vielköpfige Chimäre aus der Hölle. Bereits die Aufklärung und Klassik taten sich mit dem Stoff schwer: düster, mystisch, verworren und schwer aufzuschlüsseln.
Doch der Stoff der Commedia sucht keine Effekthascherei oder Schreckensbilder. Dante ist ein christlicher Vergil, der das menschliche Schicksal, das menschliche Individuum und die menschliche Entscheidung in den Mittelpunkt rückt. Die Commedia beginnt mit dem Fluch der bösen Tat: Drei wilde Tiere allegorisieren seine Sünden, die ihn verzweifeln lassen. Der Dante der Göttlichen Komödie ist kein Übermensch. Er ist ein armer Sünder: Er flieht, er kniet, er ängstigt sich, er weint, er fällt in Ohnmacht. Im Gegensatz zu den griechischen und trojanischen Heroen erscheint der grösste Dichter Italiens wie ein Wanderer, der keine grossen Taten vollbringt, sondern den Mitleid und die Sehnsucht nach Erlösung leiten.
Die eigene Entscheidung zählt
Dass das Individuum und seine Tat die herausragende Stellung einnehmen, wird bereits am Anfang der Commedia deutlich. Dort trifft Dante im Limbus jene «guten» Heiden, die als tugendhaft gelten, aber nicht die Taufe empfingen. Neben Vergil zählen zu dieser Gruppe auch – für die moderne Leserin, den modernen Leser nicht immer nachvollziehbar – Aristoteles, Hektor, Aeneas, Seneca oder Julius Caesar. Der Limbus, in dem die «guten» Heiden leben, wirft auch ein Licht auf Dantes Verhältnis zum Islam: Denn neben den Gelehrten und Helden der Antike trifft er dort auch den persischen Arzt Avicenna, den andalusischen Philosophen Averroes und den Sultan Saladin. Ebenso wenig, wie die Zugehörigkeit zum Islam geradewegs in die Hölle führt, verspricht die blosse Zugehörigkeit zum Christentum das Paradies. Das irdische Leben wird zur Zeitspanne von Entscheidungen, in denen sich der Mensch für oder gegen Gott entscheiden kann. Niemand ist dazu prädestiniert, dass er in der Hölle oder im Himmel landet. Nicht der falsche Glaube wirft Mohammed in den zweituntersten Höllenkreis, sondern seine schicksalsträchtige Entscheidung, als Glaubensspalter die Menschen dem Christengott zu entfremden und Zwietracht zu säen. Das Schicksal des edlen Heiden Ripheus2 dagegen bewegt die göttliche Gerechtigkeit so sehr, dass die Grazien ihn in seinen letzten Lebensmomenten taufen – tausend Jahre, bevor es die Taufe gibt. Darin steckt keine Verehrung trojanischer Heroen oder ein Relativismus, dem es gleich ist, ob eine Heidin, ein Muslim oder eine Katholikin ins Paradies eingeht. Es ist vielmehr eine Abrechnung mit den heidnischen, falschen Göttern. In seiner Aeneis schrieb Vergil noch davon, dass Ripheus‘ Gerechtigkeit und Glauben nicht von den Göttern belohnt wurde.
Wenn der toskanische Dichter demnach den Heiden Ripheus im sechsten Himmelskreis trifft, ist dies der Beweis eines barmherzigen Gottes, der Wunder wirkt, um den Gerechten zur Hilfe zu eilen. Für Gott ist nichts unmöglich – aber die Menschen müssen sich zu ihm bekennen.
Diejenigen, die sich vor der Entscheidung drücken, verachtet dagegen selbst der Teufel. Im dritten Gesang sieht Dante die von Insekten gepiesackten Leiber derjenigen, die sich im Leben weder zum Guten noch zum Bösen durchringen wollen. Es sind die Zögerer, die Relativiererinnen, die Aussitzer, die Opportunistinnen, die Willensschwachen; und es sind diejenigen, die sich in den Momenten, in denen es darauf ankommt, auf keine Seite schlagen. Sinnbildlich stehen dafür jene Engel, die beim Aufstand Luzifers weder Gott noch Teufel dienten. Anders als in den Höllenkreisen, wo Dante auf berühmte Persönlichkeiten trifft, mit ihnen redet oder sich von Vergil die Sünden erklären lässt, meint Letzterer in dieser Passage nur: «Non ragioniam di lor, ma guarda e passa» (Wir kümmern uns nicht um sie, sondern schauen und gehen weiter). Heisst: nicht einmal ignorieren. Als Grund führt der antike Poet an, sie seien «sanza ‚nfamia e sanza lodo», ohne Schande und ohne Lob – ein geflügeltes Wort, das Eingang in die italienische Alltagssprache gefunden hat. Lauheit gilt Dante als ein unverzeihliches Vergehen, sodass die Gepeinigten vom Fluss Acheron geschieden in einer separaten Vorhölle bleiben.
Mitreissend schildert deswegen das päpstliche Schreiben Candor Lucis Aeternae3 das Schicksal von Manfred von Sizilien, der in seinen letzten Lebenssekunden – sterbend und von Pfeilen getroffen – seine Missetaten bereut und sich vollkommen Gott hingibt. Manfred, der ein sicherer Kandidat für das Inferno gewesen wäre, darf deshalb am Fusse des Läuterungsberges darauf hoffen, irgendwann doch noch den Gipfel zu erreichen und ins Paradies einzugehen. In Dantes Werk bilden göttliche Barmherzigkeit und göttliche Gerechtigkeit eine Klammer, und es orientiert sich offenbar an der Feststellung von Thomas von Aquin, dass Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit Grausamkeit, Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit die Mutter der Auflösung sei. Der alte Vorwurf, Dante stecke aus Willkür, Rache oder Fanatismus persönliche Feinde und historische Gegner in die Hölle, hält demnach nicht stand; vielmehr prägt Dante ein christlicher Humanismus, der dem frei handelnden Individuum Spielraum lässt und dessen Erlösung oder Verdammung zwangsläufig von ihm abhängt. Dante ist daher tatsächlich ein mittelalterlicher Mensch, der aber mit seinem Werk das Tor für die Renaissance aufmacht, ohne allerdings von der Orthodoxie des Glaubens abzufallen. Ein Beatrice-Wort untermalt diesen Gedanken: «Die grösste Gabe, die Gott, der Schöpfer, in seiner Grossmut gewährt hat, die seiner Güte am meisten entspricht, und die er selbst am höchsten schätzt, war die Freiheit des Willens.» Dante ist – wie Papst Franziskus schreibt – ein «Prophet der Hoffnung».
Marco Gallina