Ein Meisterwerk über Glauben und Wissen

Der weltberühmte Philosoph Jürgen Habermas legt in seinem Spätwerk auf fast 1800 Seiten Herkunft und Bedeutung von Religion dar. Ist aus dem Religionsverächter neuerdings ein Religionsverfechter geworden?

Im Fokus von «Auch eine Geschichte der Philosophie»1 stehen Konstellationen von Glauben und Wissen. Es handelt sich bei Religion um eine gegenwärtige Gestalt des «objektiven Geistes». Zwar vermerkt Habermas deren Relevanzverlust im Zuge der Zunahme existenzieller Sicherheit. Zugleich konstatiert er missionarische Erfolge von Kirchen und charismatischen Gemeinschaften in Umbruchsituationen. Als zivilgesellschaftliche Akteure erscheinen ihm Religionen als «Stachel im Bewusstsein einer säkularen Gesellschaft». Als öffentliche Religionen sind sie für ihn kollektive Akteure, die sich an gesellschaftlichen Verständigungsprozessen beteiligen sowie Erfahrungen des Ausseralltäglichen vermitteln. Habermas hat den Eindruck eines weltweiten Wiederauflebens von Religion, wobei sich fundamentalistische Bewegungen und politische Instrumentalisierungen als besonders vital erweisen. Gegenüber solchen Radikalisierungen fordert er als Bedingung für den Fortbestand von Religion allerdings ein reflexives Selbstbewusstsein.

Achsenzeitlicher Durchbruch

Die in den Hochkulturen um 500 v. Chr. erfolgte Revolution der Weltbilder und Religionen kennzeichnet Habermas im Rückgriff auf Karl Jaspers' Konzept der Achsenzeit2 als einen «die Reflexion auf die Stellung des Individuums in dem Ganzen von Natur und Geschichte» ermöglichenden kognitiven Schub. Dieser verbinde sich mit einem neuen moralischen Bewusstsein. Mit den kosmologischen Weltbildern gibt es zum ersten Mal Philosophie. Den Autor interessiert, ob sich aus dem gemeinsamen Ursprung von Metaphysik und Monotheismus in der Achsenzeit auch die Sicht des nachmetaphysischen Denkens auf religiöse Überlieferungen verändert. Dabei macht Habermas etwas im «sakralen Komplex» wurzelndes Eigenes der Religionen aus: dass sie eine «rettende Instanz» kennen und anrufen. Diese verspricht, die Fallibilität und Endlichkeit zu überwinden und mit der Schwelle des Todes zu versöhnen. Der sakrale Komplex vereint Lehre und Ritus. Religion besteht nicht nur aus Lehrinhalten, sondern zudem aus rituellen Vollzügen; sie verkörpert sich in einer Praxis, «mit der die Gemeinde der Gläubigen die Inhalte des Glaubens performativ bezeugt».

Jerusalem, Athen und Rom

Für die Geschichte der westlichen, okzidentalen Religion ist laut Habermas die Konstellation von Jerusalem, Athen und Rom von elementarer Bedeutung. Jerusalem steht für die achsenzeitliche Umformung des Stammesgottes JHWH in den einen und einzigen Schöpfer, Retter und Erlösergott. Der Philosoph unterstreicht den revolutionären Charakter der Zehn Gebote, die die göttliche Transzendenz mit der Idee der rettenden Gerechtigkeit verknüpfen und den Kern einer universalistischen Moral bilden. Im Judentum geschieht gleichfalls eine radikale Verwandlung der rituellen Praxis, welche die Lektüre und Auslegung der sakralisierten Texte ins Zentrum stellt. Die Propheten werden zu Sprechern des unsichtbaren Gottes.

In Jesus macht Habermas einen eschatologischen Wanderlehrer aus, dessen messianische Reformbewegung zunächst als eine der jüdischen Sekten galt. Bei ihm erkennt der Philosoph eine radikalisierende Auslegung des Ethos des Gesetzesgehorsams, der durch das Liebesgebot zu einer Ethik der Versöhnung wird. Diese ziele auf solidarische Lebensverhältnisse. Bei Paulus finde sich der bahnbrechende Gedanke, dass Gott mit dem stellvertretenden Opfer seines Sohnes der sündigen Menschheit zuvorkommt.An Athen fasziniert Habermas die Entstehung einer philosophischen Lehre von der Politik. Im klassischen Athen bilde «die unvergleichliche Gestalt eines demokratischen Lebens in der politischen Öffentlichkeit der Stadt» den Kontext für die Freisetzung von explosiven Kräften der Individualisierung und Aufklärung. Die Einbeziehung Roms in die Genealogie der okzidentalen Konstellation ist laut Habermas wichtig, weil die institutionellen Verflechtungen zwischen Rom und Jerusalem zur globalen Ausbreitung und weltgeschichtlichen Wirkung des Christentums beigetragen haben. Das Selbstverständnis Roms kennzeichnet er als das einer universalen, mit dem Reich netzförmig verwobenen Stadt. Für ihn stellt Rom eine «zivilisationsstiftende Idee» dar. Das Römische kommt in der römisch-katholischen Kirche zum Zuge, welche die Aneignung der Organisationsform imperialer Macht mit dem Rechtsmedium verbinde.

Von der Symbiose zur Entkoppelung

Im römischen Kaiserreich kam es zur Begegnung zwischen Christentum und Hellenismus. Platonistische Strömungen boten Anknüpfungspunkte. Habermas kennzeichnet das Christentum als gegenüber der «platonistischen Bildungsreligion der Oberschicht produktiv-aneignend». Ihm zufolge ist die paradoxe Formel des Konzils von Chalzedon der Versuch, die narrativ eingeführte, in die Geschichte verwickelte Person Jesu in einer Sprache zu beschreiben, «deren platonisch-aristotelische Grundbegriffe für eine ontologische Darstellung des Kosmos entwickelt worden waren».

Das gigantische Werk des Kirchenvaters Augustinus nimmt der Frankfurter Philosoph ausführlich in den Blick.3 Jener wolle den religiösen Glauben als das konkurrenzlos wahre Wissen philosophisch begreifbar machen, wobei er «von der fehlenden kultischen Verankerung auf eine Schwäche des philosophischen Glaubensmodus» schliesse. In den Confessiones findet Habermas eine Umkehrung der Blickrichtung vom Kosmos ins eigene Innere und damit die Erschliessung der Subjektivität. Mit seiner Entdeckung der epistemischen Autorität der Teilnehmerperspektive eröffne Augustinus der Philosophie einen neuen Erfahrungsbereich und setze die Theologen-Philosophen auf die Fährte, die Versprachlichung des Sakralen in anderen Begriffen fortzusetzen.

Bei der Reformation konzentriert sich Habermas auf die Gestalt Martin Luthers4, der ihm zufolge mit der Abkehr vom Glauben und Vernunft verbindenden Programm der Kirchenväter eine weltgeschichtliche Zäsur markiere. Luther wolle «den performativen Eigensinn christlicher Glaubenswahrheiten» retten. Mit der Entkopplung des Glaubensaktes von der durch die Sünde korrumpierten Vernunft stosse der Reformator das Tor zur anthropozentrischen Wende auf. Er werde zum Bahnbrecher nachmetaphysischen Denkens. Auf der Basis seines anthropologischen Pessimismus entkoppele Luther die Gerechtigkeit vom Heil und profiliere sie als gerecht machende Gnade Gottes. Die Entkopplung von Glauben und Wissen ist Konsequenz der Rechtfertigungslehre. Das Wie des Glaubensaktes hat Vorrang vor dem Glaubensinhalt. Habermas hält diese «fideistische Wendung» für eine «selbstreferenzielle Abkapselung des religiösen Glaubens». Er unterstreicht indes die Bedeutung der hermeneutischen Wende der Theologie. Sie öffne gegen die Entmündigung des Kirchenvolkes den Zugang zu den biblischen Quellen für alle und treibe damit die Inklusion aller Gläubigen in die Interpretationsgemeinschaft voran.

Einladung zu einer vertieften Reflexion

Habermas, der sich weiterhin als «religiös unmusikalisch» bezeichnet, gelingt es, die Errungenschaften der religiös-theologischen und philosophischen Tradition für sein nachmetaphysisches Denken anschlussfähig zu machen. Sein Buch bietet eine breit abgestützte Kritik des Säkularismus, welches von der Achsenzeit bis zur Gegenwart Säkularisierungsprozesse aufzeigt und Religiöses entmachtet, aber nicht zum Verschwinden bringt. Er stellt die Potenziale von Religion heraus, die er an den Bindungskräften ihrer rituellen Performanz festmacht. In religiösen Erfahrungen und Handlungen nimmt er Kräfte wahr, welche ein Gegengewicht zum Säkularen bewahren. Aus der Perspektive des Säkularen erscheint Religion als widerspenstiges Element. Es transzendiert und irritiert das nachmetaphysische Denken. Reflexiver religiöser Glaube bildet einen Widerhaken gegen die Banalität. An Paulus, Augustinus, Luther u. a.  hat Habermas theologische Denkfiguren und Potenziale demonstriert, welche die naturalistische und ökonomistische Dominanz der auf Bemächtigung angelegten Beobachterperspektive durchbrechen. Demgegenüber wird die involvierte performative Erfahrung und Artikulation der Beteiligten betont.

Habermas' Buch ist eine willkommene Einladung, den Diskurs zwischen Gläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen ebenso reflektiert wie historisch instruiert fortzusetzen. Sein Opus bietet eine Steilvorlage für die Vertiefung der Reflexion auf das Verhältnis von Glauben und Wissen.5 Von dort aus können hermeneutisches Verständnis und kommunikative Verständigung wachsen und gelingen.

Edmund Arens

 

1 Habermas, Jürgen, Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019.

2 Vgl. Bellah, Robert N., Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit, Freiburg i. Br. 2021.

3 Vgl. Habermas, Geschichte, Bd. 1, 546–615.

4 Vgl. Habermas, Geschichte, Bd. 2, 9–72.

5 Vgl. Gruber, Franz / Knapp, Markus (Hg.), Wissen und Glauben. Theologische Reaktionen auf das Werk von Jürgen Habermas «Auch eine Geschichte der Philosophie». Mit einer Replik von Jürgen Habermas, Freiburg i. Br. 2021.

 


Edmund Arens

Prof. Dr. Edmund Arens (Jg. 1953) ist emeritierter Professor für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.

 

BONUS

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