Religionskritik war gestern

Der Glaubende braucht keine Religionsphilosophie. Der Himmel auch nicht. Erst dann, wenn der Glaubende seinen Glauben in Frage stellt und der Himmel verdunkelt bleibt, schlägt die Stunde der Religionsphilosophie.

Die Religionsphilosophie ist ein Produkt der europäischen Neuzeit gewesen: Sie setzte eine im Ganzen legitimationsbedürftig gewordene Welt voraus, die erkenntnistheoretisch durch den Primat der Vernunft, ordnungstheoretisch durch den Primat der Politik und moraltheoretisch durch den Primat der Freiheit bestimmt wurde. In diesem säkularen Spannungsfeld der Kräfte hatte die Disziplin der Religionsphilosophie keine konstitutive Bedeutung mehr, allenfalls eine regulative. Denn wo eine Kritik der Vernunft nur als Vernunftkritik möglich war, gab es kaum noch religiöse Einspruchsmöglichkeiten. Deshalb fiel die methodische Beschäftigung mit der Religion immer auch mit ihren Vernunftgrenzen zusammen: Lediglich annäherungsweise bzw. postulatorisch sollte von Gott gesprochen werden, um ein Gefühl dafür zu bekommen, dass es in der Welt gerechterweise doch auch «anders zugehen müsste» (Kant). Diese Dialektik aus Disziplin und Disziplinierung veränderte nachhaltig die Resonanz- und Erfahrungsräume des religionsphilosophischen Denkens: Sie waren nicht mehr angefüllt mit der Autorität göttlicher Offenbarung, sondern mit den Stimmen des Protestes gegen die Unerträglichkeit eines sinnentleerten Universums, das in seiner metaphysischen Blösse unempfindlich geworden ist gegenüber den Vorstellungen einer rettenden Gerechtigkeit. In diesem Sinne waren die Aufgaben der klassischen Religionsphilosophie eher passiver bzw. rezeptiver Natur und auf Formen des Erinnerns und Protestierens beschränkt.

Höhepunkt der Religionskritik

Im Zuge der methodischen Ausdifferenzierung der Religionsphilosophie im 19. Jahrhundert wurde die Kritik der Religionsphilosophie zu einer Art Selbstkritik verkürzt. Sie witterte in allen heiligen Artikulationen des Guten nur den billigen Selbstbetrug, das «Opium fürs Volk» (Marx). Dass diese Form der negativen Religionskritik den Begriff der Religionsphilosophie hermeneutisch so leicht kapern konnte, hängt auch mit dem grundlegenden Sinn- und Initiationsparadox der Religionsphilosophie zusammen: Denn die Verwissenschaftlichung der Gottesfrage reagierte schon bereits auf eine metaphysische Dämmerung der Welt. Besonders gut abzulesen ist dies an der Religionsphilosophie Hegels, der die Religion begrifflich so weit disziplinierte, dass ihre Inhalte mit dem reinen Formwillen der Philosophie kunstvoll harmonieren konnten. In dieser begrifflichen Vereindeutigung Gottes sank aber alles auf das Notwendige herab und nahm Gott seinen Glanz und seine schöpferische Freiheit: Er wurde zu einem Ding neben anderen, zu einem Fetisch, von dem es besser war, sich zu befreien, um dem Individuum seine volle Souveränität zurückzugeben. Die Heroik des Glaubens verwandelte sich so in eine Heroik des Unglaubens, die im «Tod Gottes» (Nietzsche) das ekstatische Spiel individuell entfesselter Macht- und Willenskräfte feierte. Soziologisch blieb Max Weber von dieser Diagnose Nietzsches nicht unbeeindruckt; auch er war der Überzeugung, dass die Entwicklung der modernen Gesellschaft notwendig über die Religion hinweggleiten müsse und sie allenfalls noch als irrationaler Tagtraum den privaten Alltag weniger bestimmen könne; er verabscheute «schwächliche Relativierungen», die den menschlichen Intellekt entwürdigten. Diese schrittweise Ersetzung der Religionsphilosophie durch Religionskritik fand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Sprachpragmatik von Habermas ihren vorläufigen Höhepunkt. Er rief ein «nachmetaphysisches» Zeitalter aus, in dem die expressiven Funktionen der Religion durch Sprache vollständig ersetzt werden sollten. Die «bannende Kraft des Heiligen» sollte in die «bindende Kraft von Geltungsansprüchen» überführt werden. Dort, wo Menschen miteinander sprechen, könne Gott nicht mehr sein.

Neues Interesse an Religion

Seit einiger Zeit ist in Philosophie, Theologie und Soziologie ein breiter Strom an Neuerzählungen im Gange, die die Religionskritik des 19. und 20. Jh. selbst sinnkritisch zu unterströmen scheinen. Sie alle stehen unter dem Eindruck einer «Wiederkehr der Religion» (Riesebrodt), deren anhaltende Präsenz in der Öffentlichkeit den angeblichen Exklusivanspruch des Säkularen zu einem Mysterium macht; denn, wenn die Entwicklung der Moderne eine linear erzählte Erfolgsstory ohne Religion sein soll, dann scheint das erneute Auftauchen der Religion eine Art «Kontra-Narrativ» von eigener Geltung darzustellen. Jedenfalls ist gegenwärtig ein enormes Interesse an genuin religionsphilosophischen Fragen zu erkennen, die allesamt das vordergründige Ziel verfolgen, Religion als eine unverrechenbare Gestalt des absoluten Geistes ernst zu nehmen und in einen konstruktiven Dialog mit der Vernunft zu bringen. Diese neue Umsicht ist wohl vor allem auf die verstärkte Aufmerksamkeit gegenüber den versiegenden Resonanzquellen einer «defätistisch» gewordenen Vernunft (Habermas) zurückzuführen.

Religion bleibt eine feste Bezugsgrösse

Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass gegenwärtige Philosophiegeschichten die Herausforderungen der Vernunft eher in ein postsäkulares Zeitalter überführen wollen, in dem nicht mehr der Abstand zur Religion die Epochenzugehörigkeit entscheidet, sondern vielmehr Normativität und Geltung über komplementäre Lernprozesse ausgesteuert werden. Das ist in etwa die These von Jürgen Habermas: Freiheit ist nur dann vernünftig, wenn sie die Überzeugungen des Glaubens nicht vernichtet, sondern für sich übersetzt. Eine solche Genealogie der Freiheit ist ihrer Struktur nach rettend und nicht abwertend wie bei Nietzsche. Aber diese rettende Kritik bleibt bei Habermas auf die kommunikative Vernunft bezogen, denn sie legt zugleich auch die methodischen Bedingungen für den Diskurs zwischen Glauben und Wissen fest. Der Glaube ragt zwar in das Wissen hinein und bricht so die Verhärtungen einer säkularistischen Metaphysik auf, doch bleibt er selbst von der Übersetzungsarbeit der Vernunft nicht unberührt und seine ursprünglichen Bedeutungsgehalte wandern ins Allgemeine ab. Säkularisierungskritik ist auch bei Habermas weiterhin nur im Weltinnenraum einer übersetzenden Vernunft möglich. Ihre Legitimität ist eine andere geworden: Sie baut auf eine befreiende, eine rettende Kritik der Religion auf.

Ganz anders sieht die religiöse Verteidigungslinie bei dem kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor aus. Er spricht nicht von komplementären Lernprozessen zwischen Glauben und Wissen, sondern er geht von spirituellen Optionen aus, die in ihrer Bedeutungsvielfalt miteinander konkurrieren und einander ablösen, nicht aber ineinander übersetzt werden können. Taylor kritisiert einen spezifisch postsäkularen Ansatz, der das Verhältnis von Vernunft und Religion in eine Übersetzungshierarchie bringen will, um die bleibende religiöse Irritation unter rationale Kontrolle zu bringen. Doch Taylor lehnt eine solche «Sonderbehandlung» der Religion strikt ab – und das gleich in einem doppelten Sinne: So plädiert er zum einen für eine strikte Neutralität der öffentlichen Ordnung, die gegenüber allen spirituellen Optionen eine prinzipiengeleitete Distanznahme an den Tag legen muss, um «zwischen den verschiedenen Weltanschauungen ein Höchstmass an Freiheit und Gleichheit» zu garantieren. Zum anderen macht Taylor auch moraltheoretisch deutlich, dass zwischen Vernunft und Religion keine epistemologisch scharfen Trennlinien verlaufen. Beide Einstellungen drücken in ihrer Sinnverfasstheit starke Wertungen aus, die ihren Legitimitätsanspruch nicht aus sich selbst heraus begründen können und deshalb in den expressiven «Bereich des vorgreifenden Vertrauens» führen. In dieser Perspektive der transzendental-hermeneutischen Erfahrungskonstitution ist weder Religion noch Vernunft neutral: Religion nicht in Bezug auf Gott, die Vernunft nicht in Bezug auf die Vernünftigkeit ihrer selbst. Diese Einschätzung lässt Taylor in eine Theorie der Moderne einfliessen, in der sich das Vernünftige (auch) durch die Möglichkeiten zur Bekehrung, d. h. durch grundlegende Wandlungsmöglichkeiten in den Artikulationsformen des Guten, bestimmt. Nach Taylor ist die Moderne nur dann angemessen rational, wenn sie durchlässig ist für spirituelle Erweckungserlebnisse. Den Sinn der Moderne in ihrer Konversionsfähigkeit zu erblicken, setzt daher einen hermeneutisch originellen Kontra-Punkt zu den immanenten Entzauberungstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts.

Aber nicht nur Habermas und Taylor haben mit ihren Erzählungen der Moderne das Verhältnis von Vernunft und Religion neu gedeutet. Ebenso zeichnen sich gegenwärtig in der Resonanztheorie von Hartmut Rosa und in der Menschenrechtsgenealogie von Hans Joas wichtige Einsichten in den Zusammenhang von Unverfügbarkeit und Sakralität ab. Wie es scheint, ist Gott so tot noch nicht, wie von unermüdlichen Gegnern vorhergesagt – vielmehr bleibt er weiterhin eine feste Bezugsgrösse für Philosophie und Kritik.

Michael Kühnlein


Michael Kühnlein

Dr. phil. Michael Kühnlein (Jg. 1967) studierte Philosophie und Germanistik. Er promovierte über Charles Taylors Religionsphilosophie. Kühnlein ist Habilitand an der Hochschule für Philosophie in München. Er ist Direktoriumsmitglied des Instituts für Religionsphilosophische Forschung an der Goethe Universität Frankfurt a.M. und Dozent an diesem Institut. Des Weiteren ist er auch Dozent für Philosophie und Lehrbeauftragter für Politische Theorie und Religionsphilosophie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt a.M.

 

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