Seit den Anfängen der Kirche, seit den Zeiten des Neuen Testamentes, gibt es zwei Kirchenbilder, die miteinander um die Vormacht streiten. Grob gezeichnet kann man sie nennen: Kirche von oben und Kirche von unten. Da gibt es einerseits die Kirche von oben, welche die kirchliche Hierarchie in den Vordergrund stellt und die Mitarbeit aller Getauften vergisst. Auf der anderen Seite steht die Kirche von unten. Sie stellt das Volk Gottes auf die oberste Treppe und vergisst gerne, dass es in der Kirche eine geordnete Struktur braucht. Wenn diese beiden Kirchenbilder aufeinandertreffen, dann entstehen nicht selten Konflikte.
Kirche von oben und Kirche von unten! Fragen wir uns doch einmal, auf welche Seite wir uns schlagen wollen. Ich denke auf keine von beiden, denn jeder Extremismus, jedes Ausschlagen der anderen Meinung führt zur Verhärtung der Fronten und ein christliches Miteinander ist dann nicht mehr möglich. Es muss doch einen goldenen Mittelweg geben, den wir gehen können. Es muss doch einen Kompromiss geben zwischen den beiden vorhandenen Kirchenbildern. Es muss doch möglich sein, eine Lösung zu finden, die beiden Bildern gerecht wird, ohne dass dabei durch übertriebene Zugeständnisse unser Glaube verwässert wird. Der Apostel Paulus mag uns auf der Suche nach einem solchen Kompromiss behilflich sein. Kein Gläubiger – kein Mann, keine Frau und kein Kind – ist ohne Geist und seine Gaben. Jedem wird der Geist Gottes geschenkt. Einem jeden teilt er seine besondere Gabe mit, wie er will und nicht wie wir es wollen (vgl. 1 Kor 12). Diese Unmittelbarkeit zum Geist ist niemandem zu nehmen! Das macht die Würde eines jeden Christen, einer jeden Christin aus!
Dieses Geschenk beinhaltet aber zugleich auch eine grosse Verantwortung. Wir dürfen es nicht einfach auf der Seite liegen lassen. Wir alle sollen uns auch in der Kirche engagieren und so zu einem lebendigen Miteinander aller Christen beitragen. Wenn jeder und jede sich selbst den Geist zutraut und darauf hört, dann sind wir auch bereit, dem anderen den Geist zuzutrauen. Hier ist die Grundlage unseres Glaubens, die Grundlage für alle Gespräche, die Grundlage für unsere Gottesdienste. Der Geist, der jedem und jeder von uns geschenkt ist, soll den anderen nützen, und der Geist der anderen kann auch mir etwas Wichtiges mitgeben. Das Gespräch mit den anderen kann mir helfen, meine eigene Geistesgabe besser zu erkennen.
Wenn wir alle unseren Geist aktivieren, dann hat die Kirche eine Zukunft, dann wird die Kirche die Probleme der heutigen Zeit lösen können und dann wird es nicht mehr zwei Bilder, zwei Gruppierungen geben, die miteinander im Streit liegen. Wenn jeder den ihm in Taufe und Firmung übertragenen Geist Gottes ernst nimmt und ihn wirken lässt, dann wird ein fruchtbarer Prozess beginnen. Dann wird die Jugend erkennen, dass die Kirche mehr ist als eine verstaubte und alt gewordene Institution. Und die ältere Generation wird begreifen, dass die Jugend mit jugendlicher Fantasie und mit neuer Frische das kirchliche Leben oft anders gestalten will. Es ist spannend sich vorzustellen, was das für ein begeistertes Leben wird, wenn Gottes Geist in uns, in dieser Welt und in unserer Kirche weht. Tragen wir zu einer solchen Kirche, zu einer lebendigen Kirche mündiger Christen und Christinnen bei und bemühen wir uns, immer wieder den Weg der Mitte zu finden und zu gehen.
Richard Lehner