SKZ: Wieso haben Sie sich für die Pastoraltheologie entschieden?
Manfred Belok: Mich interessierte vor allem, wie ich den Glauben reflektieren, dadurch besser verstehen, ihn verantworteter leben und auch mithelfen kann, Menschen das, was Glauben meint, besser zu erschliessen. Besonders angesprochen hat mich während meines Studiums der Satz aus «Gaudium et Spes» 1: «Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute […] sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.» Und da es ein reines Männerkonzil war, ergänze ich «und der Jüngerinnen Christi». Wer Kirche als Anwalt des Menschen ist, wird erst erfahrbar, wenn wir als hauptberufliche und ehrenamtliche kirchliche Akteurinnen und Akteure uns auf die Freude und Hoffnung, die Trauer und Angst unserer Zeitgenossinnen und -genossen einlassen und sie uns zu eigen machen, sonst ist die Aussage «Kirche ist Anwalt der Menschen» nur eine theologische Behauptung, mehr aber nicht. Ich habe deshalb nie Themen am Schreibtisch ersonnen, sondern immer versucht, mich – in Ausrichtung an «Gaudium et Spes» – den Anfragen von Menschen zu stellen und mit ihnen nach Antworten zu suchen.
Welche Anfragen wurden Ihnen gestellt?
Am Anfang, in den 80er- und 90er-Jahren, war es die Frage nach der «Ehe ohne Trauschein». Besorgte Pfarrer und vor allem Eltern erhofften sich von mir Argumentationshilfen, um ihre Töchter und Söhne von diesem Vorhaben abzuhalten. Ich dagegen versuchte aufzuzeigen, dass es wichtiger ist, auf die Beziehungsqualität zu schauen als auf die jeweilige Beziehungsform. Ein anderes, ganz starkes und lang anhaltendes Thema war der Umgang mit den «nach Scheidung zivil Wiederverheirateten». Als die erste offizielle Anfrage kam, war ich gerade neu als Pastoraltheologe in Paderborn. Keiner, besonders keiner der Moraltheologen, wollte sich aus Sorge um den eigenen Lehrstuhl des Themas annehmen. So kam die Anfrage auf meinen Schreibtisch. Ich sagte zu und auf meine Bitte hin wurden bewusst zunächst Frauen und Männer im hauptberuflichen kirchlichen Dienst eingeladen. Es zeigte sich, dass sie nicht nur als Seelsorgende, sondern viele auch durch die eigene persönliche Situation mit dem Thema vertraut waren. Bei diesen Tagungen war, ebenfalls auf meine Bitte, dann stets der jeweilige Offizial mit dabei.
Welches ist die aktuellste Anfrage?
2018 wurde ich für die «Nationale Dialogtagung» zum Thema «Vielfältige Paare und Familien – herausgeforderte Kirchen» angefragt, übrigens von der reformierten Kirche, und das als einziger katholischer Theologe in der Schweiz. Zunächst wollten sie gar keinen Katholiken dabeihaben, da sie meinten, die Vorbehalte «der katholischen Kirche» zu kennen, waren dann aber über meinen Ansatz «Von der Ausgrenzung zur Akzeptanz» positiv überrascht. Was mich bei diesem Thema irritiert, gerade bei Papst Franziskus: Er hat eine hohe Sensibilität für Menschen und deren Lebenssituationen. Er kann im persönlichen Gespräch die sexuelle Orientierung der Einzelnen respektieren und betont immer wieder auch die Würde homosexueller Partnerschaften und Liebesbeziehungen. Aber wenn er als Papst offiziell Stellung nehmen soll, dann weicht er aus. Als ihn z. B. sein Mitbruder, der US-amerikanische Jesuit James Martin, im Mai dieses Jahres anschrieb, antwortete Franziskus verharmlosend: Homosexuelle Menschen werden nicht «von der Kirche», sondern von «Menschen in der Kirche» abgelehnt. Erwartet hätte ich, dass er sagt: «Ich werde als Erstes die diskriminierenden Äusserungen zur Homosexualität im Weltkatechismus streichen.» Dass er es nicht tut, führt dann zu Problemen wie jetzt z. B. beim Verhaltenskodex im Bistum Chur. Rund 40 Mitglieder des Churer Priesterkreises weigern sich, diesen Verhaltenskodex zu unterschreiben, weil er in einzelnen Punkten nicht im Einklang mit dem Katechismus stehe; so seien z. B. gemäss Katechismus homosexuelle Handlungen in sich schlecht. Ich kann den Priesterkreis verstehen, wenn er etwas nicht unterschreibt, das der Lehre der katholischen Kirche widerspricht. Das hätte der Papst also längst bereinigen können. In Paderborn hatte ich gleich zu Beginn Ärger mit meinen Kolleginnen und Kollegen, da diese meinten, ich müsste in meinem Curriculum die katholische Formulierung «Ehe- und Familienpastoral» aufnehmen. Ich dagegen war der Meinung, dass wenn ich die Studierenden auf die Wirklichkeit vorbereiten will, ich auch die Realität, die in den Pfarreien längst da ist, mit in den Blick nehmen muss. Daher kam ich auf den Begriff «Beziehungspastoral», um die Vielfalt von Lebensformen ansprechen zu können. Eigentlich hätte ich mir den Begriff «Beziehungspastoral» damals patentieren lassen sollen, heute ist er selbstverständlich.
Welche Themen müssten in der Pastoraltheologie dringend in Angriff genommen werden?
Als erstes Thema sicher die Identitätssicherung. Viele wissen nicht mehr, was Christsein bedeutet. In einer religionspluralen Umwelt müssen Menschen wieder im Sinne von 1 Petr 3,15 auskunftsfähig werden, was der Grund ihrer christlichen Hoffnung ist. Mich erschüttert immer wieder, wenn ich in Umfragen lese, dass selbst unter Christinnen und Christen ein Drittel nicht mehr an die Auferstehung glaubt. Gleichzeitig nehme ich wahr, dass das Sakramentenverständnis, besonders die Wertschätzung für die Eucharistie, in der Schweiz mehr nachlässt, als ich es in Deutschland erlebe. In einer Pastoralkonferenz mit Hauptberuflichen fiel der Satz «Die Eucharistie ist das letzte Herrschaftsinstrument der Priester zu ihrer Selbstlegitimierung.» Da verschlug es selbst mir die Sprache. Ich bin ein Verbündeter in der Frage nach Öffnung der Zulassungswege zum Amt, aber wenn wir die Sakramentalität aufgeben, dann sind wir nicht mehr Römisch-katholische Kirche, sondern bestenfalls ein Verein religiös begabter Virtuosen – mehr aber nicht. Mein Eindruck ist, hier artikuliert sich der Frust, dass das kirchliche Lehr- und Leitungsamt sich in der Öffnung der Zulassungswege zum Amt weiterhin unbeweglich zeigt. Aber es kann doch nicht sein, dass wir das Primärgut Eucharistie dem Sekundärgut Zugangswege zum Amt opfern. Wir haben genügend qualifizierte Frauen und Männer, die theologisch gebildet, spirituell verankert und menschlich geerdet sind und die ja nicht als Privatpersonen, sondern im Auftrag ihres jeweiligen Ortsbischofs Dienst tun in den Pfarreien und in anderen kirchlichen Handlungsfeldern. Diese müssten hierfür öffentlich-amtlich beauftragt werden – und in der Tradition des Neuen Testamentes geschieht dies durch Handauflegung und Gebet, sprich Weihe. Wir haben also keinen Priestermangel, sondern Weihemangel. Ich möchte gleichzeitig betonen, dass es kein Recht auf die Weihe gibt. Die Römisch-katholische Kirche ist sakramental strukturiert und rechtlich verfasst, d. h. wir verstehen uns von den Sakramenten her und leben aus ihnen. Und: Kein Handeln darf willkürlich sein, sondern ist an gesetztes Recht gebunden. Wobei kritisch zu fragen ist: Wer in der Gemeinschaft der Kirche hat die Definitionsmacht, Recht zu setzen und zu ändern? Heute sind es nur der Papst und die Bischöfe. Vom Volk-Gottes-Gedanke her wäre hier mehr möglich. Die Zulassungskriterien zum Amt widersprechen den geltenden Menschenrechten. Wenn die Kirchenleitung sagt, sie könnte die Zugangswege nicht öffnen, weil Jesus keine Frauen für das Amt vorgesehen habe, und damit der Gleichheitsgrundsatz verhindert wird, machen sie Jesus zum Verfassungsfeind. Denn Jesus wollte bestimmt nicht gegen den Verfassungsgrundsatz der Gleichheit von Frau und Mann sein. Ich erhoffe mir, dass Exegese und Kirchengeschichte, Schrift und Tradition, die Entwicklungsschübe aufzeigen können. Es wird doch niemand behaupten wollen, dass der Vatikan und seine Mitarbeiter inklusive der Kleidung, die sie heute tragen, so von Jesus gewollt waren. Wenn die Kirche sich als «semper reformanda» versteht, dann frage ich mich: Wieso können wir die Erkenntnisse, etwa die Gleichwertigkeit von Frauen und Männer nicht auch in der Struktur der Kirche abbilden? Selbst das Kirchenrecht spricht von der «vera aequalitas» (can. 208 / CIC 1982) der wahren Gleichheit aller Getauften.
Ein kurzes Fazit
An der TH Chur hat mich damals gereizt, dass wir im Leitbild eine pastorale Ausrichtung bei Wahrung der akademischen Qualität drin haben. Denn ich wollte nie nur in der Pastoral pragmatisch «rumwursteln» und ich wollte auch nie in der Wissenschaft abheben. Ich suchte den Weg: Wo kannst du etwas in theologisch verantworteter Weise pastoral tun? Ich habe in meiner Jugend Menschen kennengelernt, die für mich überzeugte und überzeugende Christinnen und Christen waren, darunter auch sehr viele gute Priester. Ich konnte mir damals daher gut vorstellen, Priester zu werden. Aufgrund des Pflichtzölibats bin ich es nicht geworden. Mein Lebensanliegen aber ist geblieben, nur die zölibatäre Lebensform ist nicht die meine und so bin ich froh, dass ich es rechtzeitig erkannt habe. Kirche ist für mich aber immer emotional, geistig und geistlich meine Heimat geblieben. So käme ich bei aller Kirchenkritik, die ich ja auch übe, nie auf die Idee wegzugehen. Meine Kritik kommt ja gerade aus einem «sentire cum ecclesia», aus meiner Liebe zur Kirche und zum Glauben. Und: Ich bin der Fortbildungsmensch geblieben, der zufällig Professor geworden und dafür sehr dankbar ist, weil es mir die Möglichkeit gegeben hat, in diesen 19 Jahren die einzelnen Themen stärker zu reflektieren.
Interview: Rosmarie Schärer