«Führen und Folgen beruhen auf Freiwilligkeit»

Was macht eine gute Führung eines Teams oder Unternehmens aus? Die SKZ sprach mit der Organisationsberaterin Claudia Seefeldt über das Führungsmodell «Führen mit Neuer Autorität – Stärke statt Macht».

SKZ: Weshalb brauchen Unternehmen heute eine neue Führungs- und Leitungskultur?
Claudia Seefeldt: Traditionelle Führungsmodelle stossen heute zunehmend an ihre Grenzen. Sie sind zu linear angelegt und fokussieren vor allem auf die eine Führungskraft, die entweder kraft ihrer Position, ihres Wissens oder ihres Charismas oder einer Kombination von allen dreien führt. Zum einen erleben wir eine deutliche Zunahme der Vernetzung durch Globalisierung und Digitalisierung. Zum anderen bewegen wir uns mehr als je zuvor in einer «VUCA»-Welt.1 Organisationen wie Schulen, soziale Institutionen oder auch wirtschaftlich orientierte Unternehmen müssen sich schneller und häufiger veränderten Umwelten anpassen. Eine erhöhte Vernetzungsdichte und Komplexität führen zu einer Zunahme von Unsicherheit. Die Notwendigkeit, sowohl für den Einzelnen als auch für Organisationen eine Unsicherheitskompetenz zu entwickeln, nimmt zu. Es stellt sich die Frage, was in dieser Welt der Beitrag von Führung sein kann. Wie begründet Führung ihre Entscheidungen? Je höher die Komplexität und Unsicherheit der Situation, desto weniger führen von einer oder wenigen Personen getroffene Entscheidungen zu zufriedenstellenden Ergebnissen. In einer komplexen Welt brauchen wir komplexe Antworten, und diese können am ehesten durch kollektive Intelligenz, Multiperspektivität und transparente Kommunikation erreicht werden. Darüber hinaus betreten Millennials den Arbeitsmarkt, und die haben keine Lust mehr auf traditionelle hierarchische und patriarchale Strukturen. Hoch qualifizierte junge Frauen und Männer möchten mitgestalten und Sinnhaftigkeit in ihrem Arbeitsumfeld erleben.

Sie arbeiten in Ihrer Beratungstätigkeit mit dem Ansatz «Führen mit Neuer Autorität». Der Autoritätsbegriff ist geschichtlich belastet. Weshalb sprechen Sie trotzdem von Autorität?
Ich muss zugeben, dass ich selbst meine Vorbehalte gegenüber dem Begriff der Autorität hatte. Es gibt viele negative Zuschreibungen zu dem Begriff. Autorität wird häufig mit Machtmissbrauch und Gewalt in Verbindung gebracht. Das Wort Autorität an sich kommt vom lateinischen Auctoritas und wird mit Einfluss, Ansehen, Vorbild, Würde und Ermächtigung übersetzt. Also per se eher positiv besetzte Begriffe. In hierarchischen Modellen wird für das Wirken der Autorität die Ungleichheit vorausgesetzt. Hannah Arendt, die sich in ihren Schriften ausgiebig mit Autorität und Macht auseinandersetzte, merkte bereits 1954 an, dass diese Form der Autorität in ihrer patriarchalen Form bereits auf ihrem Rückzug sei. Sie beschreibt die Struktur der Autorität als dreipolig: Etwas (eine Einrichtung) oder jemand (1) hat Autorität über etwas oder jemand anderen (2) aufgrund von einer externen Quelle (3), an die die beteiligten Parteien glauben und der sie sich freiwillig fügen. Die Betonung ist hier auf der Freiwilligkeit. Anders als Macht ist in diesem Verständnis Autorität immer freiwillig – ich kann einer Person oder einer Institution jederzeit die Autorität entziehen. Ohne meine Einwilligung kann niemand mir gegenüber Autorität haben. Autorität ist kontextabhängig und in diesem Verständnis zu jeder Zeit Verhandlungssache. Das gilt übrigens auch für Führung. Führen und Folgen beruhen auf Freiwilligkeit. Spannend ist ja die Frage, welcher Quelle – wie sie Arendt beschreibt – wir uns freiwillig unterwerfen. Uns bekannte Autoritätsvorstellungen sind im Kontext von gesellschaftlichen Entwicklungen entstanden und können demnach auch wieder verschwinden, wenn der Glaube an die Quelle schwindet. Diese Quelle muss weder zwingend paternalistisch, patriarchisch, religions- oder traditionsbezogen sein noch als pyramidenförmige Hierarchie funktionieren. Die Neue Autorität bezieht sich auf ein kollektives Autoritätsverständnis, das auf einer Wertebasis beruht, die wir gemeinsam als Gruppe aushandeln. Die Gruppe selbst wird quasi zur Quelle der Autorität und vernetzt sich weitgehend horizontal. Dieses horizontale Netzwerk verleiht mehreren Figuren eine sich stets verschiebende Autorität. Und die soziale Kontrolle der Menschen untereinander wird vor allem durch Transparenz und Öffentlichkeit erreicht, durch Reflexion und intensive Kommunikation. Schauen Sie sich zum Beispiel Bewegungen wie Fridays for Future an, die politisch mitwirken, oder die zu beobachtenden Tendenzen in Organisationen zu flachen Hierarchien und Co-Leitungen. Natürlich gibt es Gruppen, die das patriarchale Modell erhalten wollen. Dennoch: Unsere Gesellschaft ist längst dabei, eine neue und zukunftsorientierte Zuschreibung zu dem Begriff der Autorität zu entwickeln.

Welches sind die zentralen Elemente dieser neuen Führungskultur?
Das zentrale Element von «Führen mit Neuer Autorität» ist die Präsenz. Eine Führungskraft wird als präsent erlebt, wenn sie sich interessiert, sich mitverantwortlich fühlt und zeigt, sich involviert, sich als konstruktive Reibungsfläche anbietet und gleichzeitig ihre Mitarbeitenden im Hinblick auf ihre Ressourcen fordert und fördert. Wenn Führungskräfte beziehungsorientiert, transparent, empathisch, reflektiert und klar führen, werden sie eher als stark wahrgenommen. Ihre Autorität beruht auf ihrer Präsenz, auf ihrer Entschiedenheit bezüglich einer gemeinsamen Wertehaltung und ihrer Verantwortungsübernahme für gelingende Arbeitsbeziehungen in ihrem Umfeld. Sie sorgen für Rahmenbedingungen, die ein Klima schaffen, das von Offenheit und Vertrauen geprägt ist. Dazu gehört auch, die eigene Fehlbarkeit nicht zu verbergen.

Welche Anforderungen stellt dieser Ansatz an den Einzelnen und ans Unternehmen?
In erster Linie der Wille zur Selbstreflexion, zu einer ethischen Verantwortung als auch die Entschiedenheit, sich persönlich zu involvieren und Präsenz zu zeigen. Das Unternehmen sollte sich zu dieser Art von Führungsverständnis öffentlich bekennen und es auf allen Ebenen fördern. Unternehmen, deren Führungskräfte nach den Prinzipien der Neuen – kollektiven oder horizontalen – Autorität führen, etablieren ein bewusstes Handeln von Führungskräften im Verbund. Das Bild der einsamen Führungskraft, die über ihre Mitarbeitenden herrscht, hat dort keine Kraft mehr. Stärke und Legitimität von Entscheidungen werden vielmehr aus der gegenseitigen Unterstützung genährt. Dadurch werden das Einfordern der gemeinsamen Werte und die Ausrichtung auf bestimmte Ziele gegenüber und mit den Mitarbeitenden einfacher.

Wie ist nach «Führen mit Neuer Autorität» vorzugehen, wenn in einem Unternehmen Misserfolg oder Konflikte auftreten?
Führungskräfte glänzen in schwierigen Situationen nicht durch Distanz und Abwesenheit, sondern zeigen vielmehr spürbare Präsenz. Sie entwickeln eine gute Selbstkontrolle. In Eskalationssituationen deeskalieren sie, indem sie nicht impulsiv reagieren und trotzdem beharrlich eine klare Haltung bewahren. Diese Art von Präsenz bezieht sich auf die Entschiedenheit, mit der die Führungskraft für die im besten Fall gemeinsam erarbeiteten Werte eintritt, und die Entschiedenheit, sich transparent gegen problematisches Verhalten, nicht aber gegen die Person zu stellen. Die Führungskraft stellt sichere Räume bereit, wo Misserfolge und Konflikte offen, wertschätzend und konstruktiv diskutiert werden können.

Und welches Element erachten Sie als besonders wichtig in Situationen, in denen wie in der römisch-katholischen Kirche Macht vehement infrage gestellt ist?
Die Antwort zu dieser Frage unterscheidet sich nicht sehr von der vorherigen. Autoritätspersonen machen Fehler – und sie können sich um eine Wiedergutmachung bemühen. Die Institution Kirche muss ihrerseits alles dafür tun, dass Machtmissbrauch transparent aufgearbeitet und Wiedergutmachung öffentlich und nicht hinter verschlossenen Türen geleistet wird. Eine klare institutionelle und persönliche Auseinandersetzung mit Werten und Grundhaltungen führt zu einer klaren Einschätzung, ob es sich um Machtmissbrauch handelt, und kann helfen, bestehende Machtstrukturen zu hinterfragen.

Interview: Maria Hässig

 

1 VUCA ist ein Akronym für Volatilität («volatility»), Unsicherheit («uncertainty»), Komplexität («complexity») und Mehrdeutigkeit («ambiguity»).

 


Interviewpartnerin Claudia Seefeldt

Claudia Seefeldt ist Mitinhaberin und Partnerin des Ausbildungsinstituts «Institut für systemische Impulse, Entwicklung und Führung» und des «systemischen Instituts für Neue Autorität» (sina) in Zürich.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente