Am 17. März starb Hermann-Josef Venetz. Über seiner Todesanzeige stehen drei kurze Worte: «Dein Reich komme!» Er hat diesen grossen Wunsch Jesu – der ein Teil des Vaterunsers ist – als Motto über seinen Tod und damit auch über sein Leben gestellt. Es war ja auch sein grosser Wunsch und gleichzeitig der Ausdruck seiner Hoffnung, dass doch Gott der einzige entscheidende Faktor des Lebens jedes Einzelnen und damit der ganzen Menschheitsgeschichte werde.
Hermann-Josef Venetz hätte letzten Herbst die Feier des goldenen Doktorats erleben können, mit der die Theologische Fakultät von Freiburg i. Ü. all jene Personen ehrt, die vor 50 Jahren ihr Doktorat bestanden haben. Die Covid-19-Massnahmen haben die Feier verunmöglicht. An die Stelle einer Laudatio bei der Jubiläumsfeier soll sein exegetisch-theologisches Werk bei seinem Grab kurz gewürdigt werden.
Die jesuanischen Anstösse verwirklichen
Hermann-Josef Venetz erwarb 1970 sein Doktorat mit einer textkritischen Arbeit zur Septuaginta und zur Hexapla bei Jean-Dominique Barthélemy. Dieser nirgends erwähnte Beginn seiner akademischen Tätigkeit hinterliess aber keine Spuren in seinem weiteren Wirken – und das ist bezeichnend: Er war zwar Professor der Universität Freiburg (1975–2002) und hatte eine sehr erfolgreiche Lehrtätigkeit als Neutestamentler, sprengte aber stets den rein universitären Rahmen. Die beiden grossen wissenschaftlichen Schwerpunkte des Biblischen Departements, die Textkritik und die Ikonografie der antiken und biblischen Welt, waren nicht seine Domäne, da für ihn die biblischen Texte und seine eigene Tätigkeit stets auf die Menschen jenseits der akademischen Welt zielten. Deshalb war die «Bergpredigt» (1987, 2018) des Matthäusevangeliums einer seiner Lieblingstexte, deshalb betonte er den jesuanischen Anfang als Kriterium der christlichen Kirche (So fing es mit der Kirche an, 1981), deshalb trat er selbst in den «Bannkreis des Paulus» (1995), hatte stets die «subversive Hoffnung» auf eine radikale Wende, wie die Johannesapokalypse sie beschwört (Das Buch von der subversiven Hoffnung, 1999) und wurde nie müde, in vielen weiteren Publikationen zu den vier Evangelien und in den Kurzformen des Schreibens (Artikel, Kolumnen, Zwischenrufe) und Sprechens (Predigten, Meditationen) die Menschen zur Verwirklichung der jesuanischen Anstösse anzuleiten. In diesem Sinn war er auch lange Jahre der Zentralpräsident des Schweizerischen Katholischen Bibelwerkes, dessen Ziel die Verbreitung biblisch fundierter Lebensformen ist.
Die Ehrungen, die er erfuhr, entsprachen diesem Grundanliegen. Er bekam als Erster den schweizerischen «Preis des religiösen Buches» (1996) und konnte zu seinem 60. Geburtstag eine Festschrift mit dem Namen «Auferstehung hat einen Namen» und zu seinem 65. Geburtstag eine zweite Festschrift «Randfiguren in der Mitte» entgegennehmen. In beiden wurden seine Anliegen von universitären Kolleginnen und Kollegen sowie von vielen engagierten Christinnen und Christen gewürdigt und bekamen dadurch eine Resonanz sowohl in der akademischen wie auch der kirchlichen Welt. Dass er stets auch eine Sprache sprach, die anecken konnte und provozieren wollte – sei dies in der Kritik verkrusteter kirchlicher Strukturen zugunsten einer befreienden Theologie, in der Forderung von Gleichberechtigung auch der Frauen im religiösen Bereich, gegen patriarchalisches Gebaren seiner Kollegen oder gegen abgehobene Diskussionen seiner Fakultät und Universität – entsprach durchaus seiner biblisch begründeten Option für eine je grössere Menschlichkeit. Dass sein Motto «Dein Reich komme!» mit einem Ausrufezeichen versehen ist, ist typisch für sein Leben, das ein einziges grosses Ausrufezeichen für das «Reich Gottes» war.
Max Küchler-Schwarzen