Innerhalb der Schule und der Kirche kommt man nicht darum herum, sich mit Werten und deren performativen Wirkungen zu beschäftigen. So legen auch die Lehrpläne für die Schule und die Kirchen entsprechende ethisch orientierte Kompetenzen vor, die es zu erreichen gilt. Der Lehrplan 21 stellt die normative Ausrichtung in seinen Grundlagen zum Lehrplan dar. In den Fächern Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) für den Zyklus I und II sowie Ethik, Religion, Gemeinschaft für den Zyklus III werden konkret zu erreichende ethische Kompetenzen formuliert. Neu wird auch in den überfachlichen Kompetenzen zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (BNE) wertorientiertes Handeln als Leitmaxime gesetzt. Und im Lehrplan für Religionsunterricht und Katechese LeRUKa wird mit dem Kompetenzbereich «Christliche Werte vertreten» die ethische Dimension des kirchlichen Religionsunterrichts beschrieben. Was bedeutet aber ethisches Lernen? Und welche Überlegungen lassen sich dazu anstellen?
Ethisches Lernen kann von mehreren Grundperspektiven her verstanden werden. Bereits Hans-Georg Ziebertz beschreibt 2001 die vierfache Unterscheidung zwischen Wertübertragung, Werterhellung, Wertentwicklung und Wertkommunikation. Diese ethischen Modelle werden stark rezipiert und auch didaktisch ausgelotet.
Problematisches Werte-Vorgeben
Das Modell der Wertübertragung wird so verstanden, dass die Lernenden mehr oder weniger bewusst vorgegebene Werte übernehmen, die vorab von der Lehrperson bestimmt und damit selektiert wurden. Dabei steht durchaus die bewusste und teilweise unbewusste Übertragung von bestimmten Werten im Fokus, womit aber auch ein tendenziell manipulativer Charakter verbunden ist. Diese Idee der Wertübertragung erhält aber in der aktuellen Religionspädagogik – trotz der langen Tradition – kaum mehr eine Resonanz, obwohl viele Praktikerinnen und Praktiker Unterricht noch stark nach diesem Modell planen und durchführen. Auf der lerntheoretischen Grundlage eines ko-konstruktivistischen Lernverständnisses wie auch dem bildungstheoretischen Ziel der Förderung von Autonomie muss von diesem Modell im (Religions-)Unterricht Abschied genommen werden.
Einheit von Denken, Fühlen und Handeln
Der Ansatz der Werterhellung geht davon aus, dass junge Menschen moralische Einstellungen erkennen und sich allenfalls auch von diesen emanzipieren. Dabei sollen dem jungen Menschen seine verinnerlichten Einstellungen reflexiv bewusst und mit den erworbenen Werten und Normen in Bezug gesetzt werden. Die eigenen Gefühle werden mit den erworbenen Einstellungen wahrgenommen und bearbeitet. Das Ziel liegt darin, eine Einheit von Denken, Fühlen und Handeln zu schaffen und damit die eigene persönliche Identität zu stärken und zu stabilisieren. Das Konzept der Werterhellung mit seiner subjektiven Dimension kann im Kontext des ko-konstruktivistischen Lernverständnisses als Zugang zur Erarbeitung von Präkonzepten verstanden werden und bietet damit in einem ersten Schritt einen wertvollen Beitrag zu Stärkung und Entwicklung von Werthaltungen und Wertreflexion.
Dilemma-Situationen
Lawrence Kohlberg zeigte mit seinem strukturgenetischen Ansatz die moralische Entwicklung in sechs Stufen auf. Damit wurde er zu einem Hauptvertreter des dritten Modells ethischen Lernens, der Wertentwicklung. Bei diesem Ansatz geht es vorab darum, die ethische Urteilskompetenz mithilfe von Dilemmata zu beschreiben. Sein kognitivistischer Ansatz wurde aber bereits sehr früh kritisiert, so beispielsweise von Carol Gilligan, die hinter dem Modell von Kohlberg zwar eine Gerechtigkeitshermeneutik erkannte, selbst aber den Aspekt der Fürsorge im Zusammenhang mit Handlungsentscheidungen in den Vordergrund stellte.
Auch wenn heute der rein strukturgenetisch-kognitivistische Ansatz von Kohlberg aufgrund der fehlenden Einbindung emotionaler Kategorien für das Handeln in der Kritik steht, mag er für die pädagogisch-diagnostische Arbeit durchaus noch wertvolle Hinweise geben. Zu beachten dabei ist jedoch, dass auch – ganz im Sinne des Strukturalismus – Pluralität und Heterogenität gesellschaftlicher Wertvorstellungen Einfluss auf die Beschreibung der Handlungsmotivationen nehmen.
Perspektivenwechsel
Gemäss dem vierten Modell (Wertkommunikation) gilt die Interaktion zwischen den Lernenden als der entscheidende Faktor für das Bewusstsein und den Erwerb von Werten und Normen und für ein konstruktives moralisches Handeln. Auf die Diskursethik von Habermas zurückgebunden, ist der Diskurs der entscheidende Faktor, wobei die Sprache das wichtigste Medium darstellt. Dabei steht der Perspektivenwechsel als Fertigkeit im Zentrum. Der Wechsel zwischen der Ich- und Du-Perspektive ermöglicht es dem Teilnehmenden des Diskurses, nicht nur die eigene, sondern auch die einem fremde Position kognitiv zu fassen. Grundlage dazu bildet die Dekonstruktion nicht nur der eigenen, sondern auch der fremden Perspektive.
Vom Wissen zum Handeln
Diese beschriebenen Modelle gehen von einem kognitivistischen Ansatz ethischen Lernens aus und nehmen den emotionalen und gewollten Gehalt ethischen Urteilens und moralischen Handelns kaum in den Blick. In der aktuellen Diskussion geht man vielmehr von einer Wechselwirkung zwischen Vernunft, Gefühlen und Willen aus. Es ist die Erfahrung vieler Religionslehrpersonen, die in ihrem Unterricht ethisches Lernen umzusetzen versuchen: Die Lernenden wissen und begründen zwar ihre Motivation und auch das mögliche – richtige? – ethische Handeln, aber die Praxis sieht dann wieder anders aus. Hier liegt eine wichtige Herausforderung für eine Didaktik des ethischen Lernens. Es braucht einen erweiterten Zugang zum ethischen Lernen als lediglich über die vier oben beschriebenen Zugänge.
Für ethisches Handeln wird die Willenskraft zu einem entscheidenden Faktor, sich gegen innere und äussere Widerstände bezüglich (ethischen) Entscheidungen durchzusetzen. Es braucht dabei eine Intensionsbildung, die durch Abwägen und Planung geprägt ist und im ersten Schritt in einer prädezisionalen (Motivation) und präaktionalen (Willen) Weise geformt wird. Der Schritt ins tatsächliche Handeln ist dabei noch nicht einfach gegeben. Es sind nebst kognitiven Leistungen auch innerpsychische Dynamiken, die tatsächlich zum Handeln führen. Man geht davon aus, dass implizite Motive, Ziele und Einstellungen wesentlich die Handlungsoptionen in die Realität umsetzen lassen.
Ich und der Andere
Damit ein kompetenzorientierter Ethikunterricht gelingen kann, braucht es die Fähigkeit, die Interessen, Problem- und Gefühlslagen der eigenen wie auch der anderen Person durch die Didaktik des Perspektivenwechsels und der Empathie zu erkennen und zu dekonstruieren. Zudem geht es um die Fähigkeit der «Compassion», also die mit positiven Gefühlen bis hin zu Glücksgefühlen verbundene Erfahrung im Zusammenhang mit dem Mitgefühl. «Compassion» stärkt die Motivation, anderen Menschen zu helfen und Gutes zu tun. Daneben sind es die Einstellungen, welche Entscheidungen und Handlungen prägen und beeinflussen. Es sind diese Einstellungen, die den kognitiven Prozess der Entscheidungen wesentlich beeinflussen, damit die Würde des Menschen geschützt bleibt, das Leben und die körperliche Unversehrtheit geachtet wird, die Freiheit und freie Meinungsäusserung gewahrt oder auch das Recht auf Kreativität und Engagement bestehen bleibt. Das Wissen um ethische Argumentationsstrukturen, die Argumentationsfähigkeit und die konstruktive Kommunikation bilden weitere wichtige Fundamente, damit ethische Lernprozesse performativ wirken können. Dabei steht auch immer die Balance zwischen Anpassung und Selbstbehauptung sowie das Wahrnehmen eigener und anderer Interessen und Bedürfnisse im Blick. Die Selbstkontrolle gegenüber den eigenen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern sowie den eigenen Emotionen ermöglicht es, durch Reflexion das eigene Handeln zu bewerten.
Guido Estermann