Texte der Kirchenväter haben jahrhundertelang alle gelesen: Philosophen, Künstlerinnen, Historiker, Mystikerinnen – und natürlich in Latein oder Griechisch. Für die weniger sprachmächtigen Nachgeborenen entstanden im 19. und frühen 20. Jahrhundert Übersetzungen, die in verschiedenen Buchserien weite Verbreitung fanden. Die Webapplikation «Bibliothek der Kirchenväter» macht diese klassischen Übersetzungen im Netz verfügbar. Benutzerinnen und Benutzer ohne Kenntnisse der alten Sprachen haben so einen bequemen und kostenlosen Zugang zu diesem Reichtum.
Aus einer Not heraus entstanden
Die Anfänge der Applikation gehen auf das Jahr 2002 zurück. Damals hatten wir uns entschlossen, das Einführungsseminar Patristik neu zu gestalten. Man war bisher davon ausgegangen, dass die Studierenden zuvor im gymnasialen Lateinunterricht wichtige Kirchenvätertexte gelesen hätten, was längst nicht mehr der Fall war. So referierte jemand über philologische Probleme bei der «Vita Martini» des Sulpicius Severus – und die anderen dösten, weil sie weder Werk noch Autor kannten. Neu lesen die Studierenden jede Woche einen zentralen Text aus der Patristik und schreiben einen kurzen Essay dazu. Diese neue Form des Seminars ermöglicht einen umfassenden Einblick in die Kirchenväterliteratur und findet bis heute Anklang. Doch es stellte sich ein Problem: Nun waren fünfzehn Ausgaben der «Bekenntnisse» des Augustinus, des Märtyrerberichts der Perpetua oder des «Lebens des Antonius» von Athanasius nötig. Eine simple Lösung bot das neu aufgekommene Internet: Ich habe die entsprechenden Werke gescannt und ins Netz gestellt. Das war die Geburtsstunde der Bibliothek der Kirchenväter im Internet.
Im Laufe der vergangenen 20 Jahre ist die Anzahl der abrufbaren Texte immer mehr angewachsen. Insgesamt sind inzwischen über 500 Werke von etwa 100 Autorinnen und Autoren verfügbar, von der «Verurteilung des Arius» von Alexander von Alexandrien bis zu den Briefen des Papstes Zosimus. Mit u. a. Thomas von Aquin und Theresa von Avila sind auch einige Meisterwerke aus späteren Epochen dazugekommen. Dieser Ausbau war und ist nur mithilfe von Freiwilligen aus ganz Europa möglich, welche die Texte bearbeiten. Ihnen sei hier ein grosses Dankeschön ausgesprochen!
Für Recherche, Predigt und Vertiefung
Der grosse Aufwand war nicht umsonst: Allein im Jahr 2021 besuchten etwa 70 000 unterschiedliche Benutzerinnen und Benutzer die Seite. Laut Google sind es etwas mehr Männer als Frauen (55 Prozent zu 45 Prozent), primär aus dem deutschen Sprachraum, die im Schnitt 35 Jahre alt sind. Diese Leute haben sich 130 000 Mal mit der Datenbank beschäftigt – durchschnittlich jeweils sechs Minuten lang. Dabei wurden fast eine Million Seiten aufgerufen.
Die Benutzerinnen und Benutzer lassen sich grob in vier Gruppen einteilen: Studierende lesen sich mit der BKV in die Grundlagentexte ein oder recherchieren für Arbeiten. Forschende schlagen schnell eine Aussage nach oder suchen in den Texten nach Begriffen und Motiven. Priester und praktische Theologinnen stöbern in der BKV nach Anregungen zur Predigt oder stellen Zitate für eine Ansprache zusammen. Und schliesslich gibt es Gläubige und Suchende, die geistiger Erbauung und theologischer Bildung nachspüren, Leben und Werk eines Heiligen zusammenstellen oder Argumente für bzw. gegen das Christentum sammeln.
Zu einem runden Geburtstag gehört auch ein Geschenk: Im letzten Jahr haben einige Stiftungen sowie der Schweizerische Nationalfonds beschlossen, den Ausbau der BKV zu fördern. Die Webapplikation wird 2022 nicht nur bedienungsfreundlicher und umfangreicher. Sie wird auch mehrsprachig werden: Neben deutschen werden auch französische und englische Übersetzungen zugänglich werden. Joyeux anniversaire, Bibliothèque des Pères de l’Église!
Gregor Emmenegger