Als die christliche Sozialarbeiterin Madeleine Delbrêl 1964 in Ivry, einem kommunistischen Arbeitervorort südöstlich von Paris, im Alter von 60 Jahren starb, war sie nur in ihrem engsten Umfeld bekannt. Doch schon wenige Jahre später sollte sie auch von bekannten Schweizer Theologen als «Modell des Christen der Zukunft»1 (Viktor Conzemius) bezeichnet und zu «den bedeutendsten Frauen des 20. Jahrhunderts»2 (Hans Urs von Balthasar) gezählt werden.
Und als die französischen Bischöfe im Jahr 1994 den inzwischen weit über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannten Brief an die Katholiken Frankreichs «Proposer la foi dans la société actuelle» veröffentlichten, nannten sie dort zwei Frauen als Vorbilder für das Christsein in der heutigen Gesellschaft: Therese von Lisieux und Madeleine Delbrêl.3
Aber kann die Spiritualität Madeleine Delbrêls auch noch im 21. Jahrhundert wegweisend sein? Ihre Gelegenheitsschriften, Kurztexte und Vorträge, zu denen sie in ihren letzten Lebensjahren immer häufiger eingeladen war, wurden zwar in über zehn Sprachen übersetzt – aber sind ihre Texte heute noch aktuell? Hat Madeleine Delbrêl im Zeitalter der digitalen Medien noch etwas zum Christsein im Alltag zu sagen?
Ihr Geburtstag jährt sich in diesem Jahr zum 120. Mal, ihr Todestag zum 60. Mal und der Beginn ihrer Equipe in Ivry liegt über 90 Jahre zurück – ist ihre weltoffene Spiritualität im 21. Jahrhundert noch zeitgemäss?
Glauben, dass Gott mich findet
In ihrer gutbürgerlichen Jugend war sie selbst überzeugte Atheistin gewesen. «Gott ist tot, es lebe der Tod [...]»4 – so heisst ein Text, den sie als Siebzehnjährige im Jahr 1922 schrieb. Hier deklinierte sie mit grosser Geistesschärfe die existenziellen Konsequenzen durch, die es bedeuten würde, wenn Gott nicht existierte: einem Sterbenden dürfe man nicht mehr «Auf Wiedersehen» oder «Adieu» sagen, sondern man müsse lernen «Auf Nirgendwo» oder «Auf rein gar nichts» zu sagen.5
Diese Erfahrung des Atheismus, den sie selbst konsequent durchlebt und durchdacht hatte, und dem sie nun im Arbeitervorort Ivry auf der kommunistischen Stadtverwaltung ebenso begegnete wie in der Überzeugung ihrer kommunistischen Freunde, blieb ihr als Tragik eines Lebens ohne Gott ein steter Stachel im Fleisch.
Noch Jahre später wird sie daher von den Christen verlangen, sich immer wieder vor Augen zu führen, was eine atheistische Weltsicht für einen Menschen bedeutet,6 sonst können
«wir [...] den Ungläubigen unseren Glauben nicht als eine Befreiung von der Sinnlosigkeit einer Welt ohne Gott verkünden, weil wir diese Sinnlosigkeit gar nicht wahrnehmen.»7
Doch die Überzeugung der jungen Intellektuellen, dass Gott im 20. Jahrhundert schlicht absurd sei, konnte sich nicht halten. Denn ihre christlichen Kommilitonen, denen sie während ihres Literatur- und Philosophiestudiums an der Sorbonne begegnete, stellten eine «Tatsache» dar, die ihre atheistische Grundüberzeugung ins Wanken geraten liess:8 «Wenn ich aufrichtig sein wollte, durfte Gott, der nicht mehr strikt undenkbar war, nicht mehr so behandelt werden, als gäbe es ihn sicher nicht. Ich wählte deshalb, was mir am meisten meiner veränderten Perspektive zu entsprechen schien: Ich entschloss mich zu beten […].»9 Und sie fährt fort: «[...] indem ich betete, habe ich geglaubt, dass Gott mich findet und dass er die lebendige Wahrheit ist und dass man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt.»10
Noch in ihrem letzten Vortrag, wenige Monate vor ihrem überraschenden Tod, der sie am 13. Oktober 1964 ereilte, bekannte sie gegenüber ihren Zuhörerinnen und ihren Zuhörern: «Ich bin von Gott begeistert worden und bin es immer noch.»11
Auch wenn ihre Biografen und auch sie selbst diese Bekehrungserfahrung an ein bestimmtes Datum, den 29. März 1924, festmachen, darf nicht übersehen werden, dass es für sie noch weitere neun Jahre eines inneren Prozesses bedurfte, bevor sie sich mit zwei Gefährtinnen dazu entschied, in der «Wüste» eines sozial minderbemittelten Arbeiterviertels in ein einfaches Reihenhaus zu ziehen, um dort Christus nachzufolgen und die offene Tür zu leben.
Von Madeleine Delbrêl kann daher auch für das Heute eines digitalen Zeitalters gelernt werden, dass es einer existenziellen Begegnung mit dem lebendigen Gott bedarf, die durchaus aus einem längeren Prozess des Nachdenkens hervorgehen und durch Beten und persönliche Entscheidung geschenkt werden kann. Ein solchermassen ergriffenes, existenzielles Christsein ist immer aktuell; es macht aber erforderlich, Gott an die erste Stelle der eigenen Werteskala zu setzen, wie Madeleine Delbrêl in eindrücklichen Worten sagt:
«Bekehrung ist ein entscheidender Augenblick, der uns abkehrt von dem, was wir über unser Leben wissen, damit wir, Aug in Auge mit Gott, von Gott erfahren, was er davon hält und daraus machen will. In diesem Augenblick wird Gott für uns zum Allerwichtigsten; wichtiger als jedes Ding, wichtiger als jedes Leben, selbst und vor allem das unsrige.»12
Inkarnierter Glaube
Gott den ersten Platz einzuräumen, ist daher die Grundbedingung christlicher Existenz: Denn «ohne diesen allerhöchsten, blendenden Vorrang des lebendigen Gottes, der uns herausfordert, indem er unserem Herzen seinen Willen anbietet, damit es in Freiheit Ja oder Nein antworte, gibt es keinen lebendigen Glauben.»13
Um aber den Glauben als «Befreiung von der Sinnlosigkeit einer Welt ohne Gott»14 auch denjenigen anzubieten, die Gott nicht kennen, verlangt die engagierte Sozialarbeiterin von den Christen das Bewusstsein, «dass für den Ungläubigen schon das Leben selber vom Tod erschlagen wird. […] Der innere Halt stürzt in allem, was lebt, zusammen […] Das Leben wird zur Vollendung des Todes, alles ist vom Nichts und von der Absurdität befallen.»15
Für ein überzeugendes Christsein setzt Madeleine Delbrêl weder auf pastorale Methoden oder Konzepte, noch geht sie über institutionelle Einrichtungen oder kirchliche Verbände, noch engagiert sie sich in entsprechenden kirchlichen Gremien. Der Glaube an Gott kann ihr zufolge letztlich nicht durch Methoden vermittelt werden, sondern wird an Menschen sichtbar, an denen die Wirklichkeit der Existenz Gottes als eine «Tatsache» abgelesen werden kann:16
«Die Tatsache und Wirklichkeit des Glaubens - das sind die Christen, die durch ein unerschütterlich treues alltägliches Handeln dieses 'Phänomen' in ihrem Leben sichtbar machen.»17
Das Feuer des Glaubens entfachen
Diese Dialektik zwischen dem bedrückenden Dunkel des Atheismus, den sie in ihren Jugendjahren existenziell durchlebt und durchlitten hatte, und dem Dunkel eines von Gott Geblendetseins, durchzieht wie ein roter Faden das Denken und Leben Madeleine Delbrêls. Aber es geht ihr nicht um ein Schwarz-Weiss-Denken, dass zwischen vermeintlich feindlicher Aussenwelt und heiler Innenwelt in einem Entweder-Oder so unterscheidet, wie es die Likes in den sozialen Medien suggerieren. Sie weiss sehr wohl, dass die Entscheidung zwischen der Ablehnung Gottes und der Annahme seiner Zuwendung ein im Inneren des Menschen auszufechtender Prozess ist, der täglich auszuhandeln ist.
Weil Madeleine Delbrêl die Konfrontation zwischen Gott und Welt – die sie realistisch als «Kampf» bezeichnet – in den Christen hineinverlegt, ist die Verwirklichung von Christsein unabhängig vom Ort: «Alle Straßen sind uns begehbar, in jeder Untergrundbahn kann man sitzen, alle Treppen steigen, den Herrn überallhin tragen.»18
Die Verbundenheit mit Gott ist nicht nur unabhängig vom Ort, sondern auch von der Zeit. Madeleine Delbrêl macht das an einem Vergleich mit dem geregelten Gebet des Ordensleben deutlich: Denn dieses ist «so geordnet, daß das Gebet darin [...] seine bestimmten Stunden hat. Bei den Kontemplativen ist alles auf ein Maximum aktiven Gebets ausgerichtet. Um 'das Feuer zu unterhalten' ist der Aufwand an Zeit so beträchtlich, daß dazu sozusagen ganze Wälder abgeholzt werden müssen.»19
Während also früher die Glaubenskunst der Orden darin bestand, dass sie ganze Wälder an Zeit für das Gebet abholzten, müssen, so Madeleine Delbrêl, die Christen heute mit weniger Zeitaufwand ebenso intensiv das Feuer des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe entfachen. Sie vergleicht das Gebet mit der Art zeitgemässen Heizens. Und weil – so schreibt sie – heutzutage kaum noch jemand Holz oder Kohle zum Heizen verwendet wird, sondern zumeist mit Öl geheizt wird, «spielt die Ausdehnung keinerlei Rolle. Man braucht nicht Tausende Quadratkilometer abzuholzen, auch kein System unterirdischer Galerien anzulegen. Man bohrt senkrecht ein Loch, dessen Öffnung lächerlich klein ist, das aber so tief reicht, dass es die Ölschicht erreicht.»
Beten ist lebensnotwendig
Madeleine Delbrêl war es möglich, solche kurzen Gebetsbohrungen zu nutzen. Aber während sie in noch so knappen Momenten des alltäglichen Lebens, «während die Suppe langsam aufkocht, während wir beim Telephon auf den Anschluss warten, während wir an der Haltestelle nach dem Bus Ausschau halten,»20 das Gespräch mit Gott suchte, sind dem Menschen im digitalen Zeitalter diese Zeitlöcher abhandengekommen. Denn diese werden häufig dazu gebraucht, um das Handy zu checken.
Und dennoch: auch für den in soziale Medien verstrickten Menschen von Heute hält Madeleine Delbrêl Impulse bereit. Denn, so sagt sie, um überhaupt in einem geschäftigen Alltag noch so kurze Gebetsbohrungen nutzen zu können, braucht man eine Zeit am Tag, die ausschließlich dem Gebet gewidmet ist. Das aber «heißt nicht, Ihm ein, zwei oder drei Stunden Gebet zu geben. Sondern Beten bedeutet etwas Lebensnotwendiges wie Essen, Schlafen und Arbeiten.»
Madeleine Delbrêl hat keine digitalen Medien gekannt – und dennoch hält ihr Leben und Werk eine Kriteriologie auch für den Menschen im 21. Jahrhundert bereit: Sich die Konsequenzen eines Gott-losen Lebens bewusst zu machen; in allem Gott den Vorrang zu geben; die eigene Verantwortung für Entscheidungen bei sich selbst zu sehen und nicht nach aussen auszulagern; ohne sich ablenken zu lassen, sich Zeit für Beziehung und Begegnung zu nehmen, sowohl für kurze, qualitätsvolle Begegnungen, als auch für grössere Zeiträume, die für Gott und den Mitmenschen reserviert werden. Denn, wie Madeleine Delbrêl sagt, es gibt nur diese eine Liebe im Doppelpack, die Gottes- und Nächstenliebe, die «indivisible amour».21
Katja Boehme