Die romanische Kirche Sant’Ambrogio (heute: San Carlo) liegt einige Höhenmeter oberhalb der Talsohle. Von der Kirche aus habe ich und alle Kirchbesucherinnen und -besucher einen phänomenalen Blick über den mittleren und unteren Teil des geschichtsträchtigen Bleniotals. Das Valle del Sole, wie das Tal auch genannt wird, zählt mit den Übergängen über den Lukmanierpass, den Passo Sole, den Greina- und den Diesrutpass zu den ältesten Alpenübergängen. So zogen Otto I., Heinrich II. und Friedrich I. auf ihren Italienzügen mehrmals durch das Tal. In der Zeit des Investiturstreits war das Valle del Sole aufgrund seiner verkehrsstrategischen Bedeutung zeitweise direkt dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs unterstellt. 1495 leisteten die Blenioneser freiwillig einen Treueeid an die Urner. Das Bleniotal wurde dadurch zum Untertanengebiet der Eidgenossenschaft. Nach 1803 wurde es Bezirk des neugegründeten Kantons Tessin. Kirchlich gehörte das Bleniotal bis 1888 zum Bistum Mailand.
Die Kirche San Carlo in Negrentino ist ein Bijoux. Der Innenraum wurde in den letzten Jahren renoviert und erstrahlt jetzt in wunderbarer Schönheit. Aktuell laufen die Renovationen an den Aussenwänden und am Turm. Die Bergkirche, am alten Saumweg über den Narapass in die Leventina gelegen, verdankt ihre Berühmtheit einerseits dem reichen Bilderschmuck aus der Romanik und Gotik und andererseits ihrer speziellen Architektur. Die Kirche zählt zum sogenannten Pseudo-Doppelapsiden-Typ. Dieser Typ war im voralpin-lombardischen und im ambrosianischen Raum recht verbreitet. Die erste Apsis und der erste Saal entstanden Ende des 11. Jahrhunderts. Auf der Südseite wurde im 12. oder auch erst im 15. Jahrhundert eine zweite, etwas kleinere Apsis und ein Saal angebaut. Hierfür wurde die Mauer der Südseite ausgebrochen. Seit diesem Anbau treten die Besucherinnen und Besucher durch die Südseite in den Kirchenraum. Licht fällt durch die geosteten Apsiden und das Südfenster und gibt dem Kirchenraum eine eindrückliche Stimmung.
Die kostbaren Bilder stammen aus verschiedenen Epochen. Ich will Ihnen drei Bilder näher vorstellen. Das älteste erhaltene Fresko (Bild oben) erstreckt sich über die ganze Breite der Westwand im alten Kirchenschiff. Im Zentrum des Freskos ist Christus als Erlöser inmitten einer Aureole abgebildet. In der linken Hand trägt er einen Lorbeerkranz. Die Apostel sind in zwei Gruppen beidseitig dargestellt. Ihr Blick richtet sich ganz auf Christus. Die ikonografischen Besonderheiten dieses Freskos führten zu unterschiedlichen Deutungen. Die Deutungen gehen von einer vereinfachten Auferstehung mit byzantinischen Elementen bis zum Weltenrichter im jüngsten Gericht. Die stilistischen und malerischen Merkmale des Freskos stimmen mit jenen der grossen Blütezeit der romanischen Malerei in Norditalien überein.
Die Besucherinnen und Besucher begegnen an der Nordseite und an der südlichen Westseite dem Bild des San Ambrogio, des heiligen Ambrosius. Letzteres zeigt die drei Mailänder Heiligen: Neben Ambrosius zu Pferd auch die Brüder Gervasius und Prothasius. Die beiden Brüder tragen den Palmzweig des Martyriums. Der reitende Ambrosius schwingt die Geissel – sein klassisches Attribut. Die Bergkirche stand bis 1702 unter dem Patrozinium des Sant’Ambrogio. Dieses Patrozinium ging dann über in die neu errichtete Dorfkirche Prugiascos. Die Kirche in Negrentino wurde einem weiteren berühmten Mailänder geweiht, dem heiligen Karl Borromäus.
Auf dem Trennbogen zwischen dem nördlichen und südlichen Schiff ist Mariä Himmelfahrt abgebildet. Die betende Muttergottes sitzt im Innern einer Mandorla. Sie wird von vier Engeln in den Himmel getragen. Gottvater empfängt sie mit ausgebreiteten Armen. Unterhalb der Mandorla knien die Apostel und schauen staunend nach oben. Einzig der ungläubige Apostel Thomas steht und greift mit der linken Hand nach dem Gürtel der Muttergottes. Diese lässt ihren Gürtel als Beweis für ihre leibliche Himmelfahrt auf die Erde fallen.
Staunend stehe ich vor der Fülle und der Sprache der Bilder. Negrentino ist eine Reise wert und in geschichtlich kundiger Begleitung unseres Präsidenten der Redaktionskommission, Heinz Angehrn, doppelt.
Maria Hässig