Zugänge zum Thema
Vor 70, 60, vielleicht noch 50 Jahren war der Austritt eines Ordensmannes, einer Ordensfrau aus ihrer Gemeinschaft Anlass zu schweigsamer Betretenheit, vielleicht gar Skandal, mit Fragen, Vermutungen, (Vor-)Verurteilungen, und so ähnlich beim Weggang eines Geistlichen von seinem Amt. Als 1926 ein vielversprechender 31-jähriger Priester in St. Gallen sich von seinem Bischof und der katholischen Kirche verabschiedete, schrieb ein anderer Priester in der Zeitung: «Cherchez la femme.» Das ist immer die erste Vermutung (oder Verdächtigung).
Heute wissen wir, dass es daneben eine Menge weiterer Gründe zur Abwendung von der Kirche und dem Amt geben kann. In einem neuen umfangreichen Buch wird das genauestens für das 15. Jahrhundert nachgewiesen, und wer es liest, ist frappiert über die Ähnlichkeiten und auch klaren Unterschiede zu heute.1 Vor allem wird deutlich, dass nur genaue Kenntnis aller Umstände ein einigermassen ausgewogenes Urteil erlaubt. Dazu hat die Verfasserin nicht nur etwa 600 vorangegangene Studien beigezogen, sondern auch etwa je 120 Quellen in Handschriften oder Druckwerken durchgearbeitet. Vorbildlich sind die ausführlichen Register. Viele dieser Fälle sind heute noch in Archiven vergraben, für das vorliegende Thema v. a. im Vatikanischen Geheimarchiv und in den Archiven der Diözesen und Klöster. Der behandelte Zeitraum erstreckt sich vornehmlich von 1431 bis 1492, berücksichtigt wurden (unter mehr als 60) v. a. die Diözesen Augsburg und Konstanz. Zuständig ist die römische Pönitentiarie («Buss-, Beicht-und Gnadenamt»), einbezogen die Kanzlei (verantwortlich für die Ausfertigung von Urkunden) und die Kammer (Finanzverwaltung). Die Dokumente der Pönitentiarie waren bis 1983 «verschollen», sind seither zugänglich und werden nun ausgewertet. Darin sind alle jene Fälle verzeichnet, die nicht ordensintern oder durch den Diözesanbischof geregelt werden konnten, sondern dem Papst vorbehalten blieben («die Spitze des Eisbergs»). Aus vielen Gründen sind aus den Archiven immer grosse Bestände verschwunden, doch was vorliegt, reicht aus, um ein klares Bild zu bekommen.
Thema und Verfasserin
Die Klosterflucht galt als «Apostasie», die in drei Bereichen stattfinden konnte: Abfall vom Glauben insgesamt (vom rechten christlichen Glauben Häresie genannt), von der Klostergemeinschaft, vom Priesterstand. Absicht der Schriften an den Papst (manche der Bittgänger trugen ihre Bitte persönlich in Rom vor) war die Absolution von der Exkommunikation, die man sich mit dem Austritt automatisch zuzog, die Bitte um Dispens von den Gelübden, die Erlaubnis, in ein anderes Kloster (des eigenen oder eines anderen Ordens) überzutreten.
Die Verfassserin ist die Tochter eines 1948 aus der Tschechoslowakei geflüchteten Asylanten, der 1959 das Bürgerrecht erwarb, mit dem Vornamen Vaclav wie der tschechische Präsident Vaclav Havel, der übrigens eine Armbanduhr aus dem Uhrmachergeschäft von Vaclav Svec trug; sie ist verheiratet und hat zwei Kinder, die bisweilen auf ihren Knien sassen, wenn sie ihre Dissertation schrieb.
Motive und Sanktionen
85 Prozent Männer, 15 Prozent Frauen flohen aus dem Kloster, u. a. weil Reformmassnahmen anstanden, die sie nicht mittragen wollten; weil sie mit den Vorgesetzten oder Mitbrüdern im Streit waren (bis Schlägereien und Mord), weil sie mit Gewalt oder viel zu jung zu den Gelübden gezwungen worden waren (v. a. Frauen, oft aus adligen Kreisen); Probleme mit der Sexualität scheinen nur etwa vier Prozent gehabt zu haben. Oft benutzten sie einen bewilligten Ausgang oder eine Wallfahrt zum endgültigen Fernbleiben, oder weil sie an einem Kriegshändel teilnehmen wollten. Eine liess ihre Kutte auf dem Tisch mit dem Zettel: «Gott allein die Ehr, in diese Kutten komme ich nicht mehr.» Es gab weitherum Mönche, Nonnen und Priester mit liederlichem Lebenswandel (das Konkubinat war weit verbreitet), aber die Verfasserin unterstreicht, dass das nicht generell gilt, dass viele Klöster sehr geordnet (und streng) waren, viele Insassen tadellos. Eine hilfreiche Lösung war oft der Übergang («transitus») in ein anderes Kloster. Oft wurde dem Wunsch der Bittsteller entsprochen, ausdrücklich mit Hinweis auf ihr Gewissen und andere legitime Gründe; fehlbare Unbussfertige, wenn sie doch wieder zurückkamen, wurden oft bestraft, mit Gefängnis oder Schlägen (wie damals üblich).
Licht und Schatten
«Strikte Normen, Einschränkungen und Regelwerke provozieren gesellschafts-, kultur- und epochenübergreifend immer auch Devianz und Delinquenz» (S. 341). Abweichungen sind unvermeidbar, sie werden verschieden eingestuft und «behandelt». Ich las einmal, der Zölibat (und die Ordensgelübde) seien zu keiner Zeit so gut eingehalten worden wie zwischen 1850 und 1950 – das ist also gesamthaft gesehen eher eine Ausnahmeerscheinung.
Aber die Abweichungen waren eine Angelegenheit des klösterlichen Alltags, kein Massenphänomen. Der geistliche und kulturelle Gewinn dürfte weit über die menschlichen Fehlbarkeiten hinausgehen.