Konfliktpotenzial oder Bereicherung?

Die Kirche in der Schweiz wird kulturell immer vielfältiger. Wie können fremdsprachige Missionen und Ortskirchen damit umgehen? Um diese Frage ging es an einer Tagung des Liturgischen Instituts Ende Januar.

Weltfamilie: Palmsonntagsgottesdienst 2018 in Maladers GR. (Bild: rs)

 

Viele Menschen sind in Bewegung. Einige wandern aus Abenteuerlust aus, andere ziehen aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen in ein anderes Land, und nicht wenige sind auf der Flucht vor Krieg oder Unterdrückung. So entsteht eine ethnisch, kulturell und sozial vielfältige Gemeinschaft. An der Tagung «Vielfalt leben. Pfarreien und katholische Missionen feiern Liturgie» tauschten sich Männer und Frauen aus Pfarreien und verschiedenen Missionen über ihre Erfahrungen, Hoffnungen und Schwierigkeiten aus.1

Einheit der Liturgie, Vielfalt der Kulturen

Benedikt Kranemann, Professor für Liturgiewissenschaft in Erfurt, arbeitete in seiner theologischen Grundlegung die Spannung zwischen Einheit und Vielfalt in der Liturgie heraus. Die Liturgie vereint alle Menschen, die an Christus glauben. In ihr feiern sie eine Botschaft, die an jeden einzelnen Menschen gerichtet ist: das «Pas- chamysterium». Dabei «muss die Vitalität des Geglaubten, das sich mit dem Pascha Jesu Christi verbindet, theologisch nachdrücklicher ausgesagt werden, als es häufig geschieht».

Die Liturgie der katholischen Kirche ist kein rein «römisches» Produkt. Dies wird bereits an den verwendeten Sprachen deutlich: Neben der Muttersprache finden wir Latein, Griechisch und Hebräisch. Das Kyrie stammt aus dem christlichen Osten, die Busspraxis wurde vom irischen Christentum beeinflusst usw. Christliche Migranten bringen ihre je eigene kulturelle Ausprägung der einen gemeinsamen Liturgie mit. Diese ist zusammen mit weiteren Frömmigkeitsformen für sie von grosser Wichtigkeit, bilden sie doch eine Brücke in die Heimat. Diese Pluralität bedeutet allerdings für manche Christen in der Schweiz nicht nur eine Bereicherung, sondern auch eine Infragestellung der eigenen Werte und Gewohnheiten.

Es stellt sich für die Ortskirche die Frage, wie weit sie in ihren Gewohnheiten gefangen ist, respektive inwiefern sie bereit ist, sich von den Traditionen und Riten der Christen aus anderen Kulturen bereichern zu lassen. Dabei sind die Fragen der Liturgie zugleich Fragen der Ekklesiologie. Die aktuelle Herausforderung für die Kirche besteht darin, die Einheit im Glauben zu leben und gleichzeitig dem legitimen Anspruch auf kulturelle Vielfalt zu entsprechen.

Tradition und Traditionen

Die Katholizität bildete den Hintergrund des Referats von Daria Serra-Rambone. Jesus von Nazareth lebte zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Gleichzeitig ist er das «concretum universale», d. h., seine Botschaft ist für alle Menschen, an allen Orten, zu allen Zeiten gedacht. Deshalb passten bereits die Apostel und Jünger ihre Verkündigung den Adressaten an. Da seither die Botschaft von vielen Menschen an vielen Orten weitererzählt wurde, gibt es verschiedene Traditionen. Diese Traditionen sind stets im Austausch mit der Tradition. Und auch die Traditionen untereinander stehen im Austausch, was infolge der Unterschiede zu Spannungen führen kann (z. B. zwischen Ortsgemeinde und fremdsprachiger Mission).

Die Kirche ist immer auf dem Weg zur Fülle der göttlichen Wahrheit, besitzt sie aber noch nicht (vgl. «Dei Verbum» 9). Serra-Rambone überträgt diesen Gedanken auf die konkrete Situation der Kirche: Gott ist die Fülle – die Vielfalt ist ein Abbild dieser Fülle. Daraus ergeben sich folgende fünf Konsequenzen für das Zusammenleben der verschiedenen Traditionen:

1. Ich bin nicht Besitzer der Wahrheit
2. Ich brauche den anderen
3. Ich muss vor der Tradition Rechenschaft über meinen Glauben ablegen
4. Ich muss vor den Traditionen Rechenschaft über meinen Glauben ablegen
5. Die Werkzeuge dafür sind «fides et ratio». Das gemeinsame Ziel ist die Wahrheit.

Die gemeinsame Gottesdienstvorbereitung von Ortskirche und fremdsprachigen Missionen kann so zu einem Ort des Dialogs werden. Sie ist einerseits Bereicherung durch das Wissen des anderen, andererseits Reinigung, da hier Fehlentwicklungen in der eigenen Tradition aufgedeckt werden.

Gelingende Gemeinschaft

Wie gross die Vielfalt in der Kirche ist, zeigte Patrick Renz, Nationaldirektor von migratio. So gibt es in der Schweiz zurzeit 11 gesamtschweizerische, 25 regionale sowie 85 lokale Missionen. Angesichts dieser Vielfalt ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass Gemeinschaft nicht Einheit, sondern die Vermittlung zwischen Einheit und Vielfalt bedeutet. Damit dies möglich wird, bedarf es geschützter Räume, in denen der Austausch gepflegt und voneinander gelernt werden kann. Dabei ist es wichtig, sich mit seinen Ängsten und anderen Emotionen auseinanderzusetzen. Machtstrukturen müssen hinterfragt und der Dialog respektive die gegenseitige Wertschätzung gefördert werden. Hier hat die Kirche eine wichtige Rolle: «Gemeinsame Liturgie beginnt weit vor der Liturgie, dann kann sie gelingen.»

Beispiel aus der Praxis

Wie in der Praxis das Verhältnis von Ortskirche und Missionen gelebt werden kann, zeigte Franz Xaver Amherdt, Professor für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Universität Freiburg i. Ue., am Beispiel der Seelsorgeeinheit Renens-Bussigny VD. Damit der Dialog vor Ort möglich ist, bildet die Sprache einen wichtigen Ansatzpunkt in der pastoralen Arbeit. So sieht das Konzept dieser Seelsorgeeinheit vor, dass alle Seelsorgenden mehreren Sprachgemeinschaften dienen sollen; dies verlangt, dass die Seelsorgenden mindestens zweisprachig sein müssen. Ekklesiologisch und pastoraltheologisch wäre es seiner Meinung nach von Vorteil, wenn jeder «Missionar» zugleich Mitglied eines Pastoralteams wäre. Denn Integration muss immer in beide Richtungen erfolgen: Die fremdsprachigen Missionen passen sich der Kultur der Ortskirche an, während diese von den neuen und ungewohnten Ansätzen der Missionen profitieren können.

Gute Möglichkeiten, die Zusammenarbeit zu fördern, bieten die Gottesdienste, die Sakramentenvorbereitung sowie die Diakonie und das soziale Engagement. Die gemeinsame Vorbereitung einer Hochzeit, einer Taufe oder der Firmung kann dazu beitragen, dass sich die ausländischen Kinder in der Ortspfarrei heimisch fühlen und ihre Eltern und Verwandten sich besser darin zurechtfinden. Amherdt ist davon überzeugt: Bei gelingender Zusammenarbeit werden wir «nach und nach nicht mehr von ‹Missionen› und ‹Schweizer Pfarreien› sprechen. Vielmehr werden wir mit den Seelsorgenden ein paulinisches ‹Allen bin ich alles geworden› (vgl. 1 Kor 9,19–23) leben.»

Erst am Anfang des gemeinsamen Weges

Die Ergebnisse der Tagung fasste Samuel M. Behloul vom Zürcher Institut für interreligiösen Dialog zusammen und stellte dabei unter anderem die provozierende Frage: «Wie sollen sich die fremdsprachigen Missionen integrieren, wenn die Volkskirche im Begriff ist, sich aufzulösen?» In der folgenden Diskussion gab Serra-Rambone zu bedenken, dass es ein grosser Unterschied sei, ob zwei Gemeinschaften (Ortskirche und fremdsprachige Mission) «fusionierten» oder ob sich ein Einzelner in eine Gemeinschaft integrierte. In diesem Fall bestünde die Gefahr der Assimilierung.

Eine weitere kritische Wortmeldung wies darauf hin, dass die Mitglieder der fremdsprachigen Missionen einen grossen Teil der Katholiken in der Schweiz ausmachten, sie aber praktisch unsichtbar seien, da sie oft nicht im Pfarrei- oder Kirchgemeinderat respektive in der Landeskirche vertreten seien. Macht abgeben könne aber nur derjenige, der sie besitze.

Die Anwesenden waren sich einig, dass die Diskussion über die Vielfalt in der Kirche erst angefangen hat.

Diese Vielfalt der Kirche war an der Tagung spür- und sichtbar: Die Teilnehmer setzten sich aus Schweizern und Mitgliedern der Missionen zusammen. In vielen intensiven Gesprächen, insbesondere im «Café Vielfalt», lernte man sich kennen – eine wichtige Voraussetzung für ein Miteinander. Die gemeinsam gefeierten mehrsprachigen Gottesdienste wurden von verschiedenen Sprach- und Kulturgruppen vorbereitet. Hier zeigte sich deutlich: Wenn Gemeinschaft gelebt und der gemeinsame Glaube gefeiert wird, kann Kirche zur Weltfamilie werden.

Rosmarie Schärer

 

1 Ich beziehe mich im Folgenden auf die Skripts resp. Präsentationen der Referenten.