«Lachen ist Bestandteil unserer Religion»

Der jüdische Humor zeigt sich zuweilen in Naivität, dann wieder in Bauernschläue. Er kann direkt oder auch philosophisch sein. Immer aber ist er durchdacht und hat Niveau.

Alfred Bodenheimer (Jg. 1965) ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel und dort seit 2010 Leiter des Zentrums für Jüdische Studien. (Bild: rs)

 

SKZ: Welche Rolle spielt der Humor im jüdischen Glauben?
Alfred Bodenheimer: Bei einer so stark strukturierten Religion wie dem Judentum, wo sehr vieles vorgeschrieben ist, ist der Humor der Ausdruck von Gelassenheit. Es geht darum, für Dinge, die eigentlich verboten oder praktisch unmöglich sind, aber getan werden müssen, einen Weg zu finden, sie trotzdem zu tun, ohne das Gesetz zu umgehen. Es ist ein Vorgehen gegen totale Sturheit; und Sturheit ist das Gegenteil von Humor. Der Humor kommt vor allem dort zum Ausdruck, wo das praktizierte Judentum ein Judentum der intellektuellen Herausforderung ist. So fördert z. B. der Talmud die Rechtsdiskussion. Diese Diskussionen sind eigentlich nicht witzig, aber sie fördern eine gewisse Originalität des Denkens. Daraus ergibt sich oft ein abgründiger oder hintergründiger jüdischer Humor, weil er durchdachter ist, weil er sozusagen noch durch die kasuistische Mühle gegangen ist. Was den jüdischen Humor vermutlich ebenso gefördert hat wie der Glaube, sind die Lebensverhältnisse: ein Leben in einer gewissen Situation von Ausgrenzung, manchmal auch von verbauten Möglichkeiten, wo man sich anders in der Welt zurechtfinden musste.

Humor als Mittel, sich der Opferrolle zu verweigern?
Ich würde eher sagen: Man anerkennt die Opferrolle, versucht aber, diese in eine andere Dimension zu bringen. An den Fakten kann man nichts ändern, aber an der Deutung der Fakten. Wer noch über sich oder seine Situation lachen kann, ist noch nicht vollständig zum Opfer geworden. Man behält eine Deutungssouveränität. Das hat auch mit Würde zu tun.

Woher kommt der jüdische Humor?
Das sind schwierige Diskussionen. Der jüdische Witz, so wie wir ihn kennen, ist ein Ergebnis des 19. Jahrhunderts. Und nebenbei bemerkt auch eine europäische Form von Humor: Er blendet die ganze Welt des arabischen Judentums aus, das meiner Meinung nach eine ganz andere Humorkultur hat. Einige meinen, dass der jüdische Humor mit der Aufklärung begann, andere sagen, ihn gab es schon in der Bibel. Wieder andere meinen, er fing im Talmud an. Es gibt sicher in der Bibel einzelne Stellen, die Humor enthalten. Mir gefällt besonders eine Passage im Buch der Richter: das Gleichnis Jotams (Ri 9,7–15). Abimelech lässt alle seine Brüder umbringen, um König zu werden, einzig Jotam kann entkommen. Es ist eigentlich eine todernste Situation. Doch Jotam predigt zum Volk und macht sich über den Kronprätendenten lustig, indem er erklärt: «Jeder Obstbaum, dem man die Königswürde angeboten hat, sagt, die Pflege seiner Früchte sei wichtiger. Einzig der Dornenstrauch ist dazu bereit.» Hier kann man den Humor erkennen. Oder auch bei Elia auf dem Berg Karmel, als er sich über die Baalspriester lustig macht.

Hat Gott Humor?
Der Talmud enthält dazu eine bemerkenswerte Geschichte: Ein Rabbi vertritt gegen die Mehrheit des Gerichtshofs eine bestimmte These, wie ein Gesetz ausgelegt werden müsse. Er inszeniert alle möglichen Naturwunder, um die Richtigkeit seiner These zu belegen. So soll sich ein Baum an einen anderen Ort bewegen, was dieser auch tut. Seine Gegner wehren ab: «Das zählt nicht. Ein Baum kann nichts über das Gesetz aussagen.» Zum Schluss holt der Rabbi einen «bat qol», eine Art göttliche Stimme, die ihm recht gibt. Darauf antworten ihm seine Gegner: «Gott sagt schon im Buch Deuteronomium, dass die Tora nicht im Himmel, sondern auf der Erde ist. Somit entscheidet die Mehrheit und nicht Gott.» Und dann steht im Talmud, dass Gott gelacht und gesagt habe: «Meine Söhne haben mich besiegt.» Das ist eine hochinteressante Stelle, an der man sieht, dass bereits im Talmud damit gespielt wird, dass Normdiskurse auch Situationen von Komik hervorrufen können.

Juden können eher über religiöse Witze lachen als Christen. Täuscht dieser Eindruck?
Das Lachen über die eigene Religion ist wirklich Bestandteil unserer Religion. Dies beginnt, wie bereits gesagt, schon im Talmud. Ein Grund für den Unterschied könnte sein, dass die religiösen Instanzen im Judentum vermutlich weniger enthoben sind als im Christentum: Der Rabbi ist einer aus der Gemeinde, auch wenn er gleichzeitig eine hochverehrte Persönlichkeit sein kann. Das Gefälle ist im Judentum weniger gross, gleichzeitig ist der Normdiskurs grösser und bietet mehr Reibungsflächen. Dazu ein Witz: Der Rabbi muss entscheiden, wer in einem Streit recht hat. Er hört zunächst dem einen zu und sagt dann: «Du hast recht.» Danach hört er dem anderen zu und sagt wiederum: «Du hast recht.» Die Frau des Rabbi, die danebensitzt, interveniert, er könne doch nicht beiden recht geben. Darauf der Rabbi zur Ehefrau: «Du hast auch recht.» Dieser Witz zeigt, dass ein Rabbi als Entscheidungsinstanz auch mal vor einer Situation stehen kann, die überfordernd wirkt.

Stellen Sie eine Veränderung im jüdischen Humor fest?
Mit der Veränderung der Welt wandelt sich der Humor. Vor allem der technische Fortschritt, die neue rechtliche Situation, der Holocaust in der einen oder anderen Form und die Gründung des Staates Israel haben den jüdischen Humor verändert. Die Frage, ob israelischer Humor überhaupt noch jüdischen Humor darstellt, wurde oft gestellt. Es gibt natürlich sehr alte Witze, die lustig bleiben, weil sie einen philosophischen Hintergrund haben. Diese werden auch in 100 Jahren noch erzählt werden.

Sie haben den Holocaust angesprochen. Wie kann ein Volk, das so sehr gelitten hat, noch lachen?
Nach dem Holocaust hatte man zwei Möglichkeiten: den Betrieb einstellen oder weitermachen. Wenn man weitermacht, muss man auch lachen können. Man kann nicht Generationen in Trauer heranziehen, das wäre ein kollektiver geistiger Suizid. Ich denke, dass Juden immer wieder vor dieser Herausforderung standen. Diese Frage stellte sich in einer ein wenig anderen Form nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahr 70. Aus dem religionsgesetzlichen Grundwerk des Judentums, der Mischna (redigiert um das Jahr 200), geht hervor, dass danach in der Öffentlichkeit nicht mehr musiziert wurde. Doch dann setzte sich die Erkenntnis durch, dass man nicht ein ganzes Volk ohne Musik leben lassen kann. Die Menschen haben ein Bedürfnis nach ihr und sie ist ein wichtiger Teil des Lebens. Während des Holocaust erzählte man sogar in Ghettos Witze. Es gab auch Cabarets und Tanzgruppen. Selbst im Konzentrationslager Theresienstadt gab es noch Aufführungen. Die Menschen brauchten das zum Überleben. Ohne Humor kann das Leben nicht weitergehen.

Inwiefern veränderte die Gründung des Staates Israel den jüdischen Humor?
Die Entstehung des Staates Israel brachte eine neue Lebenssituation. Die Juden waren nicht mehr die Schwachen, die sich im Kosmos der Stärkeren behaupten mussten. Sie waren jetzt ein Kollektiv, das sich viel stärker fühlte, das nicht mehr mit dem Witz als Waffe durch die Gegend lief, sondern mit wirklichen Waffen. Wenn man eine Mehrheit ist, die mit einer Minderheit im Staat lebt, hat man einen anderen Humor, als wenn man als Minderheit mit einer Mehrheit im Staat lebt. Zugleich setzt sich auch die jüdische Mehrheit aus Juden aus über 100 Nationen zusammen. In einer solchen extrem durchmischten Gesellschaft hat man ganz andere Fremdheitsbegegnungen. Die Juden mussten deshalb eine andere Art von Umgang mit sich selbst und mit anderen entwickeln.

Somit gibt es «den» jüdischen Humor nicht?
Es gibt etwa die Schnorrerwitze, die Rabbiwitze oder die Eisenbahnwitze, da Juden viel gereist sind. Das sind Typen, es sind aber keine Stereotypen. Wenn jemand einen Schottenwitz oder Österreicherwitz erzählt, dann weiss man immer, wo die Pointe liegen wird. Das ist im jüdischen Witz nie so, dieser ist immer ergebnisoffen: Man weiss bis zum Schluss nicht, wer welche Rolle spielen wird. Jüdischer Humor ist etwas zwischen sozialer Situation und kulturreligiöser Prägung. Es gibt meines Erachtens keinen autochthonen jüdischen Humor, sondern es braucht einen Mix aus verschiedenen Situationen, damit er sich ergeben kann – und Situationen ändern sich im Verlauf der Geschichte.

Interview: Rosmarie Schärer