Macht ohne Verantwortung

Sexueller und geistlicher Missbrauch und deren Vertuschung sind u. a. systembedingt. Wenn die Kirche nicht mehr aus den letzten Jahrzehnten ihrer Geschichte lernt, verkommt die Prävention zur Makulatur.

Eine Kirche, welche sich vor allem durch intellektuelle Konstrukte, höchste Ideale und kultische Reinheit definiert, tut sich unweigerlich schwer darin, unvoreingenommen wahrzunehmen und zu akzeptieren, was wirklich ist. Der Unwille, genau hinzuschauen, und die Unfähigkeit, schreckliche Verbrechen durch kirchliche Amtsträger beim Namen zu nennen, sind wesentliche Elemente der jahrzehntelangen Vertuschung von sexueller Ausbeutung in der katholischen Kirche. Experten der Verhaltensanalyse-Einheit III des FBI sprechen von einem «Circle of secrecy» und kommen im Pennsylvania-Report zum Schluss: «Die Bischöfe wussten nicht nur, was vor sich ging; sie waren selber darin verwickelt. Und sie haben kaum Mühen gescheut, um alles geheim zu halten. Die Verschwiegenheit hat zur Verbreitung der Seuche beigetragen» (S. 300).

Wegschauen hat System

Mittlerweile wird immer deutlicher, dass die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen und deren Vertuschung nicht die einzigen Auswüchse von missbrauchter Macht und nicht wahrgenommener Verantwortung sind. Erwachsene Personen, Pfarreiangehörige, Ordensleute, aber auch Seminaristen sind ebenfalls in hohem Masse betroffen. Bereits vor knapp 20 Jahren hatten viele kirchliche Entscheidungsträger detaillierte Kenntnis über die systematische sexuelle Ausbeutung von Ordensfrauen. Dies belegt z. B. ein ausführlicher Bericht im National Catholic Reporter vom 16. März 2001. Wenige Wochen darauf folgte ein Beschluss des Europäischen Parlaments, in dem der Heilige Stuhl u. a. aufgefordert wurde, «alle Beschwerden über sexuellen Missbrauch innerhalb der kirchlichen Organisationen ernst zu nehmen, mit den gerichtlichen Behörden zusammenzuarbeiten und die Täter aus öffentlichen Ämtern zu entfernen». Rückblickend ist zu konstatieren, dass diese Aufforderung in zahlreichen Fällen nicht viel mehr als ein Ruf in den Wald geblieben ist. Hinzu kommt das Phänomen des spirituellen Missbrauchs, sprich die systematische «Manipulation, Unterdrückung und Ausbeutung anderer ‹im Namen Gottes›, um sie für das Erreichen eigener Zwecke und Ziele gefügig zu machen» (Hannah A. Schulz). Der andauernde Missbrauch geistlicher Macht, bei dem besonders intime Abhängigkeitsverhältnisse ausgenutzt werden, hat für Betroffene oft ähnlich schwere Folgen wie andere Formen psychischer und physischer Gewalt.

In der Frage nach den Ursachen für all diese Formen von Machtmissbrauch greifen monokausale Erklärungen naturgemäss zu kurz. Die vorliegenden Studien und Berichte zeigen jedoch klar, dass die Ausbeutung von Menschen in der Institution Kirche nicht nur im Verhalten von Einzelpersonen begründet ist, sondern ebenso durch systemimmanente Faktoren ermöglicht und begünstigt wurde. Anstelle von klaren Zuständigkeiten und formalisierten Entscheidungsabläufen ist insbesondere die kirchliche Personalpolitik durch ein mehr oder weniger subtiles System von Abhängigkeiten und unsichtbaren Druckmitteln geprägt. Ein solches System ist massgeblich von unausgesprochenen Regeln bestimmt und vieles läuft über gegenseitige Gefälligkeiten. Der Etablierung von «männerbündischen Strukturen» (Klaus Mertes) ist damit Tür und Tor geöffnet.

Rechenschaftspflicht dringend erforderlich

Es gibt in der Kirche sehr viel letztgültige Entscheidungsgewalt in den Händen von wenigen Einzelpersonen, welche niemandem Rechenschaft über ihr Handeln ablegen müssen. Oft fehlt bei der Besetzung von Schlüsselstellen ein realer Bezug zur dafür erforderlichen Kompetenz. Die Ausübung von Macht ist komplett von echter und einforderbarer Verantwortung entkoppelt; absurderweise gerade in einer Institution, welche der ganzen Welt vorschreiben will, wie gutes Menschsein geht. Wie viel der blosse Bezug auf Moral, Jüngstes Gericht und Eigenverantwortung tatsächlich gebracht hat, zeigt der Scherbenhaufen, vor dem wir stehen: Personen, welche im Namen Gottes und durch kirchliche Autoritäten legitimiert aufgetreten sind, haben Abertausenden von Mitchristen unermessliches Leid zugefügt und ihre Existenz in vielen Fällen irreversibel zerstört. Ohne Rechenschaftspflicht für Menschen in Führungspositionen bleiben ihre Untergebenen, tendenziell wehrlos, der Willkür ausgeliefert. Wie Karin Iten (Fachstelle Limita) treffenderweise bemerkt, braucht es «mehr formalisierte statt diffuse Macht» und tatsächliche «Machtbegrenzung durch Gewaltenteilung». Im epidemischen Ausmass sexueller Ausbeutung und im grobfahrlässigen Umgang mit Tätern und Opfern zeigen sich nicht nur personale Schwachstellen, sondern fundamentale strukturelle Probleme. Das Bischofsamt vereint in sich die höchste gesetzgeberische, richterliche und ausführende Gewalt im entsprechenden Bistumsgebiet. Der Bischof ist heute auf der operativen Ebene über seine Entscheidungen oder seine Untätigkeit niemandem Rechenschaft schuldig. Andererseits ist es völlig illusorisch, zu meinen, Checks and Balances, Good-Governance- und Compliance-Strukturen würden sich gleichsam spontan oder auf freiwilliger Basis in kirchliche Institutionen implementieren lassen. Es stellt sich sogar grundsätzlich die Frage, ob solche Ansprüche auf bloss juristischer und verwaltungstechnischer Ebene wirksam umsetzbar sind, ohne die grundlegenden Probleme rund um die Amtsgewalt (sacra potestas) zu lösen und die kirchliche Verfassung weiterzuentwickeln.

Weiter so – um welchen Preis?

Im kirchlichen Kontext haben Personen in leitender Stellung – selbst nach gravierenden und für zahlreiche Personen verheerenden Fehlentscheidungen – nach wie vor kaum oder gar keine Konsequenzen für ihr Handeln zu befürchten. Das unerträglichste Beispiel dafür ist die Tatsache, dass wir in der katholischen Kirche weltweit weiterhin Tausende von – teilweise auch geständigen und bereits verurteilten – Sexualstraftätern haben, die bis zu ihrem Tod Priester bleiben können und nicht selten für den Rest ihres Lebens weiterhin mit kirchlichen Steuer- oder Spendengeldern versorgt werden. Wer hingegen kein Doppelleben führen will und seine Beziehung zu einem Partner oder einer Partnerin transparent macht, der ist innerhalb von wenigen Monaten seine Stelle los. Hier wird weiterhin ein falsches Spiel gespielt, um einen billigen Schein von Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten.

Ein Priester, der die psycho-physische Integrität, die Gesundheit und das Wohl ihm anvertrauter Menschen kontinuierlich gefährdet oder auch einmalig, durch eigenes Verschulden, massiv schädigt, hat m. E. sein Recht verwirkt, in der Kirche Priester zu bleiben, geschweige denn jemals wieder als solcher zu wirken. Wenn es um die Besetzung vakanter Stellen geht, dann erscheint hingegen jeder Priester besser als keiner, weil wir ja eh schon zu wenige haben. Man will sakramentale und seelsorgerliche Grundversorgung um jeden Preis – einen Preis, den schliesslich wiederum die Gläubigen vor Ort bezahlen. Bereits Gregor d. Gr. klagte: «Die Welt ist voller Priester, aber Arbeiter in der Ernte sind selten.» Qualität muss wichtiger sein als Quantität. Doch das wird nur möglich, wenn wir die Devise «(vermeintliches) Seelenheil um jeden Preis» aufgeben. Wenn hingegen Hochrisikosituationen weiter bewusst in Kauf genommen und potenziell oder aktuell gefährliche und gefährdende Personen auf Menschen losgelassen werden, dann sind selbst die besten Präventionsmassnahmen im Handumdrehen wieder sabotiert.

Neue kirchliche Kultur

Aussagen wie «Wir haben mittlerweile sehr viel getan» oder «Bei uns gilt schon lange eine Nulltoleranz» gehen uns allzu leicht über die Lippen. Bis heute wird die viel besungene Sorge der Kirche um die Opfer von vielen Betroffenen als zelebrierte Hilflosigkeit erlebt. Wir sagen zwar, die Sorge um die Opfer müsse im Mittelpunkt stehen, sind aber kaum bereit, konsequent die dafür erforderlichen Massnahmen zu treffen. Es gilt zahlreiche, immer noch vorherrschende Leitmotive im kirchlichen Personalwesen über Bord zu werfen, damit Schutzkonzepte nicht blosse Makulatur bleiben. Echte Präventionsarbeit zum Wohl der Menschen gelingt dann, wenn wir gemeinsam die gesamte Kultur der Kirche nachhaltig verändern.

Stefan Loppacher


Stefan Loppacher

Dr. iur. can. Stefan Loppacher (Jg. 1979) studierte Theologie an der Theologischen Hochschule in Chur und promovierte in Rom im Bereich «Kirchliches Strafverfahren und sexueller Missbrauch Minderjähriger». 2019 bis 2024 war er Präventionsbeauftragter des Bistums Chur. Seit dem 1. Juli 2024 leitet er die neue nationale Dienststelle «Missbrauch im kirchlichen Kontext» bei der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ).

 

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