Mit ihrer Arbeit über die Zensur im Dienste des Priesterbildes. Der «Fall Crottogini»1 promovierte Jessica Scheiper im Fach Kirchenrecht. Mit Bezug auf deren wichtigste Ergebnisse erörtert Stephan Schmid-Keiser für die SKZ mit Jessica Scheiper die Umstände eines kirchlichen Zensurfalles, der eine offene Diskussion über den Priesterberuf in den 1950er-Jahren verunmöglichte.2
SKZ: Was veranlasste Sie zur Forschungsarbeit über Jakob Crottogini und die kirchliche Zensur seiner Doktorarbeit «Werden und Krise des Priesterberufes»?
Jessica Scheiper: Aufmerksam wurde ich auf das Thema durch einen eher beiläufigen Hinweis in einer Studie des Historikers Benjamin Ziemann zum Verhältnis von katholischer Kirche und Sozialwissenschaften in den Jahren 1945 bis 1975. Ziemann erwähnte die empirische Arbeit Crottoginis über priesterliche «Berufskrisen» (z. B. Schwierigkeiten mit dem Zölibat) aus dem Jahr 1955, für die Crottogini mehrere Hundert anonyme Fragebögen von Seminaristen ausgewertet hatte. Diese Arbeit sei vom Hl. Offizium aber sofort verboten worden. Mich haben die Gründe für das Verbot und die näheren Umstände interessiert.
Zu einem der psychologisch-pädagogischen Faktoren merkte Crottogini an, die Befragten «hätten sich aufgrund ihrer sexuellen Verfehlungen nicht mehr würdig und fähig gefühlt, einst dem hohen und reinen Priesterideal gerecht zu werden». Wie ordnen Sie dieses Priesterideal ein, von dem sich damals viele abwandten?
Papst Pius XI. und auch Papst Pius XII. etwa – um im zeitlichen Kontext von Crottoginis Arbeit zu bleiben – haben den Priester in diversen Verlautbarungen als einen «zweiten Christus» bezeichnet. Der Priester galt als besonders tugendhaft und sollte der Vollkommenheit Christi möglichst nahekommen. Das schärften die Päpste wiederholt ein. Zwar gab es nie das fixe und endgültige Priesterbild, grundsätzlich hatte der Priester aber eine «übermenschliche» Vorbildfunktion, der viele nur schwer gerecht werden konnten.
Worin bestanden die Ziele der Priesterausbildung vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil? Welche Regelungen galten und welchem Menschenbild waren sie verpflichtet?
Prägende Prinzipien der vorkonziliaren Priesterausbildung waren Gehorsam, Zucht und Ordnung. Statt auf eigenen Willen und Individualität wurde auf einen homogenen Klerus gesetzt. An der Gehorsamsbereitschaft, so hiess es, liesse sich die Berufung erkennen. Wie viele alte Seminarstatuten belegen, lebten Seminaristen zudem oftmals von der Aussenwelt abgesondert und isoliert, um so vor möglichen Gefahren der Aussenwelt bewahrt zu werden.
Welche Gründe rechtfertigten das Thema Sexualität im tridentinisch geprägten Priesterseminar? Welche Folgen ergaben sich daraus?
Zunächst ging es beim Thema Sexualität im Rahmen der Priesterbildung weniger um eine individuell-existentielle Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen Identität als um deren Vermeidung und Beherrschung. Da die Kandidaten ohnehin zölibatär leben würden, sah man keine Notwendigkeit, über Sexualität zu reden. Sexualität wurde also mindestens vernachlässigt, oft auch gänzlich tabuisiert. Erst mit Blick auf ihren späteren Einsatz als Beichtväter kam das Thema auf. Um als Priester über Sünden der Gläubigen zu richten, sollten die Seminaristen in Fragen der Biologie, der Moraltheologie und des Kirchenrechts genau unterrichtet sein. Wenn herauskam, dass ein Kandidat sexuell aktiv war, war das meist – u. U. abhängig von der Beurteilung und der Häufigkeit der Handlung – ein Grund, um den jeweiligen Kandidaten aus dem Seminar zu entlassen.
Wie stand es in den 1950er-Jahren mit der Beurteilung der sexuellen Reife bei der Förderung des Priesternachwuchses? Wie steht es heute damit, nachdem die Ehelosigkeit weiterhin für die Ordination zum Priester bedingungslos vorausgesetzt wird?
Pauschal gesprochen spielte die Beurteilung der sexuellen Reife auch gerade hinsichtlich der Weihezulassung keine herausragende Rolle. Ehemalige Seminaristen berichten, ihre (geschlechtliche) Identitätsbildung sei nicht nur nicht gefördert, sondern bisweilen sogar institutionell verhindert worden. Der psychosexuelle Entwicklungs- und Reifeprozess sei ausgeklammert und erwachsene Männer infantilisiert worden. Soweit ich das beurteilen kann, hat sich die Lage inzwischen deutlich verbessert, obwohl die sog. MHG-Studie von 2018 bemängelt, dass die Beschäftigung mit den Themen Sexualität und sexuelle Identitätsbildung in Priesterseminaren noch immer knapp bemessen sei.
Jakob Crottogini lag daran, ein realistisches Bild des kirchlichen Dienstes zu zeichnen – miteingeschlossen die Wege nicht-zölibatären Lebens, die sich in den frühen 1970ern nicht zuletzt in der Schweiz anbahnten. Stiessen Sie auch auf entsprechende Vorschläge Crottoginis?
Crottogini hatte früher als manch anderer Priestererzieher erkannt, dass es für viele Kandidaten ein langer und herausfordernder Kampf ist, dem geforderten Ideal gerecht zu werden und das geforderte Ideal nicht einfach mit dem Eintritt ins Seminar vorauszusetzen ist. Mit seiner Dissertation wollte er deshalb nicht nur Erziehern eine Hilfestellung geben, sondern auch die Seminaristen motivieren, nicht vorschnell aufzugeben. In seinem Nachlass bin ich auch auf jüngere Aussagen von ihm gestossen, in denen er sich klar gegen «verhärtete Formen» aussprach, die neue Möglichkeiten und Berufungen verhindern. So hielt er es etwa für überfällig, verheiratete Diakone und viri probati zur Priesterweihe zuzulassen. Und auch am Zölibat gescheiterte Priester sollten s. E. wieder eingegliedert und in den Dienst übernommen werden.
Ihre Dissertation trägt den Titel «Zensur im Dienste des Priesterbildes». Welche Erkenntnisse sind für Sie über den «Fall Crottogini» hinaus wichtig?
Neben der Rekonstruktion des faktischen Verfahrensablaufs und seinen Abgleich mit den rechtlichen Vorschriften war erhellend, wie aktuell dieser scheinbar alte Zensurfall war. Hinsichtlich der anhaltenden Missbrauchskrise belegt der Fall, dass und wie lange das Wissen um einen spezifischen Risikofaktor für sexuellen Missbrauch, nämlich die sexuelle Unreife von Priestern, im System bekannt war, aber unterdrückt wurde.
Hat Crottogini nach dem Buchverbot resigniert? Was nahm er dabei in Kauf?
Crottogini gab selbst zu, der amtliche Umgang mit seiner Person habe in ihm eine Kirchen- und Glaubenskrise und eine Infragestellung der kirchlichen Strukturen ausgelöst. Resigniert hat er aber keineswegs. Er liess sich nicht beirren, hat seine Berufung gelebt und war schliesslich doch noch viele Jahre in der Mission in Südamerika und in der Seelsorge in seiner Heimat tätig.
Crottogini interessierte der allgemeine Wandel der Lebenswelt von Jugendlichen. Sein Einsatz galt einem neuen Priesterprofil. Wie sah dieses für ihn aus und wie realistisch war es?
Im Rahmen meiner Arbeit habe ich mich hauptsächlich mit Crottoginis Forschung zu Beginn der 1950er-Jahre beschäftigt. Zu diesem Zeitpunkt würde ich noch nicht von einem gänzlich neuen Priesterprofil bei ihm sprechen wollen. Doch empfand er schon damals mindestens den Umgang mit den Novizen als nicht mehr zeitgemäss. Ebenso war für die damalige Zeit auch seine Einsicht sehr progressiv, dass viele jugendliche Seminaristen die Tatsache übersähen, dass die «geforderte sichere Beherrschung des Sexualtriebs im Normalfall erst der Preis für ein langes, hartes, oft von Niederlagen gezeichnetes Ringen und Kämpfen darstellt.» Crottogini leitete daraus eine besondere Aufgabe des Erziehers ab, die jungen Männer auf diese Wirklichkeit aufmerksam und ihnen Mut zu machen, anstatt direkt ihre Berufung anzuzweifeln.
Crottogini liess sich nochmals im Jahre 20073 vernehmen. Er verlangte von den christlichen Kirchen und religiösen Gemeinschaften, noch mehr vom konkreten Menschen mit seinen Werteorientierungen auszugehen. Frau Scheiper, Sie haben das abschliessende Wort zu einer Persönlichkeit, die uns gerade in prekären Zeiten von Kirche und Gesellschaft einiges zu sagen hat.
Er war ein Pionier der empirischen Forschung auf dem brisanten Gebiet der Priesterbildung und zugleich ein weiteres Opfer der kirchlichen Bücherzensur, und das tragischerweise zu einer Zeit, als diese bereits in den letzten Zügen lag. Er hat das lebenslang als tiefes Unrecht empfunden, aber im Glauben durchgetragen.
Interview: Stephan Schmid-Keiser**