Mehr Demokratie in der Kirche?

Sollen in der Kirche die unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt, Gewalt geteilt und Laien mehr Partizipation an Entscheidungsprozessen ermöglicht werden? Darüber sprach die SKZ mit Urs Brosi und Niklaus Herzog.

SKZ: Die Kirche ist vor allem seit dem 19. Jahrhundert nach dem Vorbild einer Monarchie organisiert. Die Gläubigen in unseren Breitengraden leben in Demokratien mit ihren Rechten und Pflichten. Angesichts des Machtmissbrauchs wird der Ruf nach struktureller Erneuerung der Kirche laut. Wie müsste diese aussehen, damit sie eine Weiterentwicklung der Tradition darstellt und das demokratische Rechtssystem gleichzeitig berücksichtigt?
Urs Brosi (UB, Bild1): Ich gehe davon aus, dass die demokratischen Elemente schrittweise in die bestehenden Kirchenstrukturen einzubauen wären. Das Zweite Vatikanische Konzil leitete eine äusserst vorsichtige Redemokratisierung der Kirche ein: Die Laien beraten im Pfarreirat ihren Pfarrer und im Seelsorgerat ihren Bischof, die Priester beraten im Priesterrat den Bischof, die Bischöfe beraten in der Bischofssynode den Papst. Bislang geht es dabei auf allen Ebenen immer nur um Beratung. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, diese Beratungsorgane in definierten Geschäften mit Beispruchsrechten, d. h. mit Anhörungs- und Zustimmungsrechten, mit Aufsichtsrechten und schliesslich auch mit Entscheidungsrechten zu stärken. Einen zweiten Schritt sehe ich darin, die bereits vorhandene Gewaltenteilung weiterzuentwickeln. Die minimale Reformvariante bestünde darin, dem Papst und den Diözesanbischöfen die Oberhoheit über die judikative Gewalt wegzunehmen und die judikative Gewalt zu einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit weiterzuentwickeln. Als weitergehende Variante sollte die legislative Gewalt an eine neu zu bildende «Weltkirchensynode» und an neue «Diözesansynoden» übergehen, welche aus Laien und Geistlichen zusammengesetzt sind. Ein dritter und für die Demokratie wichtiger Schritt besteht im Wahlrecht. Das Kirchenvolk soll periodisch jene Amtsträger wählen, die im Kirchenrecht als «Pastor proprius» bezeichnet werden. Das sind die Pfarrer, die Diözesanbischöfe und der Papst. Die Pfarrer könnten unmittelbar vom Volk gewählt werden, wie dies in den staatskirchenrechtlichen Strukturen in etlichen Kantonen der Deutschschweiz bereits geschieht, die Diözesanbischöfe und der Papst indirekt über gewählte Wahlgremien. Für den Einbau der demokratischen Strukturen in die bestehende Kirchenstruktur stelle ich mir einen längeren Prozess vor, um sowohl die harten Faktoren, sprich die Strukturen, als auch verschiedene weiche Faktoren zugleich zu entwickeln. Zu Letzteren zähle ich Bildung, freie Medien, transparente Behörden, letztlich eine Kultur der Verantwortung.

Wie sehen Sie dies?
Niklaus Herzog (NH, Bild2): Demokratie ist definitionsgemäss Ausübung von Herrschaft auf Zeit durch die vom Volk gewählten Vertreter. Im Gegensatz dazu geht es in der Kirche um die Ausübung einer Vollmacht. Die Träger der Vollmacht handeln wiederum nicht im Auftrag eines wie immer definierten Volkes, sondern im Namen dessen, der ihnen (mittelbar) die Vollmacht übertragen hat, nämlich Jesus Christus. Das Zweite Vatikanische Konzil hat demzufolge keine, auch nicht eine «äusserst vorsichtige Redemokratisierung der Kirche» eingeleitet. Wohl aber hat es das synodale bzw. kollegiale Element der Kirchenverfassung substanziell gestärkt bzw. das Gleichgewicht zwischen Universal- und Teilkirche wiederhergestellt. Es trifft auch nicht zu, dass hinsichtlich der exekutiven und judikativen Gewalt bereits nach geltendem Recht eine Gewaltenteilung bestünde. Aus dem Wortlaut von can. 391 §2 CIC geht vielmehr hervor, dass der Bischof den General- bzw. Bischofsvikaren die exekutive Gewalt und den Gerichtsvikaren die judikative Gewalt jederzeit entziehen und selbst ausüben kann, was mit dem Begriff der Gewaltenteilung unvereinbar wäre. Es geht auch in diesem Kontext nicht um Machtansprüche und Gewaltenteilung im staatlichen Sinne, sondern um das grundlegende, für das ganze Leben der Kirche konstitutive Prinzip der Stellvertretung und damit um die je unterschiedliche Partizipation an der kirchlichen Sendung.

Urs Brosi sprach die Verwaltungsgerichtsbarkeit an. Wie stehen Sie dazu?
NH: Die Forderung, in der Kirche von den Bischöfen unabhängige Gerichte einzusetzen, wird vorwiegend im deutschsprachigen Raum erhoben und ist eine direkte Folge der in den vergangenen Jahren bekannt gewordenen sexuellen Missbräuche durch Kleriker. Da ein Bischof in der ihm anvertrauten Teilkirche über die gesetzgebende, ausführende und richterliche Vollmacht verfügt, gerate er – so wird geltend gemacht – im Falle eines sexuellen Missbrauchs durch einen ihm untergebenen Priester in einen kaum lösbaren Interessenskonflikt. Der Bischof sei gleich in doppelter Hinsicht befangen: Weil er einerseits über einen von ihm geweihten und angestellten Priester richten und andererseits gleichzeitig dessen Opfer schützen muss. Die Bischöfe seien deshalb vor sich selber zu schützen, indem – am besten auf der Ebene der nationalen Bischofskonferenzen – von Bischöfen unabhängige Gerichte eingesetzt werden. Das Bischofsamt erfuhr durch das Zweite Vatikanische Konzil eine signifikante ekklesiologisch-theologische Aufwertung. Dieses legte verschüttete Zugänge zu Wesen und Funktion des Bischofsamtes wieder frei. Die Implementierung einer Gerichtsinstanz an den Bischöfen vorbei, die gegebenenfalls auch noch über sie urteilen könnte, stünde völlig quer zu grundlegenden Intentionen des Konzils. Es bedeutete dies im Kern auch eine Aushöhlung der sakramentalen und deshalb hierarchischen Verfassung der Kirche. Gegen die Einsetzung bischofsunabhängiger Gerichte spricht über ihre rechtstheologisch-sakramentale Inkompatibilität hinaus auch eine Reihe von Gründen primär pastoraler Natur. So ist es bezeichnend, dass dieses Postulat in deutschsprachigen Ländern erhoben wird, wo die vielfältigen Aufgaben der Kirche mit Steuern finanziert werden. Über diese pekuniäre Hängematte verfügen die Diözesen in anderen Regionen nicht. Die Finanzierung solcher Spezialgerichte wäre für die meisten Diözesen der Zweiten und Dritten Welt mit erheblichen ökonomischen Belastungen verbunden. Durch die blosse Existenz solcher exklusiv für Machtmissbrauch zuständigen Gerichte würden zudem Geistliche zumindest implizit unter permanenten Generalverdacht gestellt, was das Rechtsprinzip der Verhältnismässigkeit in erheblicher Weise verletzen würde. Die kirchenrechtlichen Instrumente zur wirksamen Bekämpfung von Machtmissbrauch sind vorhanden. Aber man muss sie auch anwenden.

Wie werten Sie diese Gegenargumente?
UB: Sie gehen davon aus, dass die Implementierung einer von den Bischöfen unabhängigen Gerichtsinstanz, die bischöfliche Entscheide überprüfen dürfe, völlig quer zu Intentionen des Konzils stünde. Ich stelle dagegen fest, dass die erste Bischofssynode, die schon 1967 stattfand, zehn Leitlinien approbierte, nach denen der Codex Iuris Canonici (CIC) reformiert werden sollte. Leitsatz 7 forderte unter dem Titel «De ordinanda procedura ad tuenda iura subiectiva» eine Verbesserung des Rechtsschutzes, insbesondere durch die Schaffung von Verwaltungsgerichten auf allen Ebenen. Das Prinzip des Rechtsschutzes sollte auf Untergebene und Vorgesetzte in gleicher Weise angewendet werden, um «nicht einmal den Verdacht von Willkür in der Kirche aufkommen zu lassen». Noch im selben Jahr gründete Papst Paul VI. im Zuge der Kurienreform ein Verwaltungsgericht, das Entscheide der römischen Kurie überprüft, sofern die Verletzung einer Rechtsnorm geltend gemacht wird. Um nun auf Ebene der Kirchenprovinzen und der Bischofskonferenzen entsprechende Gerichte zu schaffen, wurden Anfang der 70er-Jahre vielfältige Bemühungen unternommen, nicht nur in deutschsprachigen Ländern. Ein Entwurf, um die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Codex zu regeln, lag bereits 1972 vor. Über verschiedene Entwurfsstadien hinweg blieb die Verwaltungsgerichtsbarkeit bis zum letzten Entwurf von 1982 erhalten. Dann aber, als Johannes Paul II. im Januar 1983 den neuen Codex promulgierte, fehlten die entsprechenden Kapitel über die Verwaltungsgerichte vollständig. Was den Papst aus Polen zur Streichung bewog, wissen wir nicht mit Sicherheit. Im Zentrum der öffentlich geäusserten Kritik stand aber die Vorstellung, dass es nicht angehe, wenn Richter Entscheide von Bischöfen widerrufen könnten. Die von Niklaus Herzog dargelegte Argumentation hat den innerkirchlichen Machtkampf gewonnen. Dass aber das Anliegen weltkirchlich marginal gewesen und mit der dogmatischen Position des Konzils unvereinbar sei, kann ich angesichts der belegbaren Forderung durch die Bischofssynode, die bis heute weiterbestehende Entscheidung von Papst Paul VI. für die Errichtung eines Verwaltungsgerichts in Rom, der konstanten Unterstützung des Anliegens durch die CIC-Reformkommission u. a. nicht teilen.

Wie ist denn aus Ihrer Sicht in der Kirche Macht zu organisieren, aber auch zu begrenzen und zu kontrollieren?
NH: Georg Wilhem Friedrich Hegel formulierte es so: «Der Staat ist die machthabende Allgemeinheit als Quelle allen Rechts.» Mit dieser Verabsolutierung der Macht in den Händen des Staates legte Hegel die rechtsphilosophische Basis für eine Entwicklung, die in den Totalitarismen des Kommunismus und Nationalsozialismus ihre historisch beispiellose Ausformung fand. Seither gehören die Fragen nach der Grenze und der Kontrolle staatlicher Macht in noch viel stärkerem Ausmass als früher zum unaufgebbaren Proprium des modernen Staatsverständnisses. Mit der Bindung an das Recht und v. a. der Konzeption eines vom Staat nicht antastbaren Kerns eines jeden Menschenrechts soll inskünftig die Gefahr staatlicher Exzesse gebannt werden. Eine analoge Übertragung dieser im säkularen Bereich ebenso berechtigten wie notwendigen Paradigmen in den kirchlichen Bereich ist deshalb nicht zielführend. In den Fokus zu rücken ist nicht die Frage nach der Macht, sondern nach der Vollmacht – und damit auch die Frage nach demjenigen, der die Vollmacht erteilt. Das Zweite Vatikanische Konzil wählte bewusst diesen Begriff, ja es spricht gar im Kapitel über die hierarchische Verfassung der Kirche von einer heiligen Vollmacht. Eine Vollmacht, die sich nicht anders denn als Dienst am ganzen Gottesvolk verstehen und bewähren muss. Sich als Ant-Wort auf das Wort Gottes begreifen, auf je unterschiedliche Weise als Gesandte Christi am Aufbau der Kirche mitwirken, ist der anspruchsvolle Auftrag aller Christgläubigen. Dass auch Vollmacht missbraucht werden kann und tatsächlich missbraucht wird, kann ernsthaft nicht bestritten werden. Zur Frage der wirksamen Bekämpfung stellte Theologieprofessor Jan-Heiner Tück folgende bedenkenswerte Überlegungen an: «Die Aufhebung des Pflichtzölibats, die Öffnung des Amtes für Frauen, Gewaltenteilung und Demokratisierung der Kirche werden als Heilmittel empfohlen. Ein Seitenblick auf die protestantischen Kirchen, in denen alle diese Reformwünsche erfüllt sind, zeigt allerdings, dass die Erneuerung der Kirche noch einmal anders ansetzen müsste. Über Strukturreformen hinaus wäre die Frage ins Zentrum zu rücken, wie man die Ressourcen des Heiligen, aus denen Generationen vor uns gelebt haben, neu freilegen kann, zumal es für sie in der säkularen Gesellschaft keine Äquivalente gibt.»

Die weltweite Fokolarbewegung wird von einer Frau geleitet, in den Ländern übernehmen je eine Frau und ein Mann gemeinsam die Leitung. Inwieweit können Orden, Kongregationen und geistliche Bewegungen Impulse für Leitungs- und Entscheidungsstrukturen in der Kirche bieten?
UB: Ordensmitglieder sind zwar den evangelischen Räten und damit dem Gehorsam verpflichtet. Dennoch weisen in der Tat die Orden und andere religiöse Lebensgemeinschaften eine Vielfalt an Partizipationsmöglichkeiten für ihre Mitglieder auf, sodass die Macht der Leitungsperson(en) begrenzt wird. Bereits die Regel des hl. Benedikt kennt die Wahl des Abts, des Priors und der Dekane sowie die Pflicht, dass sich der Abt in wichtigen Fragen von der ganzen Gemeinschaft beraten lassen muss. Das Kirchenrecht bestimmt, dass das Generalkapitel und nicht der Obere die höchste Autorität in einem Institut besitzt; neben dem Generalkapitel kann es noch weitere Beteiligungs- und Beratungsorgane geben, deren Kompetenzen durch die Statuten definiert werden. Moderne geistliche Gemeinschaften wie die Fokolarbewegung oder das Katharina-Werk gehen noch weiter, um ihre Mitglieder stärker in die Verantwortung einzubinden und die Leitungsmacht zu teilen. Trotz der Unterschiede zwischen den Gemeinschaften des geweihten Lebens und den Territorialkörperschaften Pfarreien und Bistümer bieten sich diese Gemeinschaften als «Demokratie-Laboratorien» für die Kirche an.

NH: Die Polarität von Institution und Charisma ist der Kirche in ihr Erbgut eingeschrieben. Dieser Spannungsbogen ist die unverzichtbare ekklesiologische Grundlage für spirituelle Erneuerungen, für ein je umfassenderes und tieferes Verständnis des Mysteriums Kirche. Das institutionelle Element kann zu Verknöcherungen und Blockaden führen, das charismatische Element kann in eine diffuse, ja willkürliche Interpretation und Praxis des Evangeliums abgleiten. Die hohe Kunst besteht darin, über die Gabe der Unterscheidung der Geister zu verfügen, um die Spreu vom Weizen unterscheiden zu können und so zur Dynamik und zum Wachstum des christlichen Glaubens beizutragen. Immer aber hat dabei nicht die Frage nach der Macht im Zentrum zu stehen, sondern jene nach der bestmöglichen, je unterschiedlichen Partizipation und Verantwortung aller Christgläubigen.

Interview: Maria Hässig

 

1 Urs Brosi (Jg. 1965) studierte Theologie und kanonisches Recht in München, Luzern, Rom und Münster. Er ist Generalsekretär der Katholischen Landeskirche Thurgau und Dozent für Kirchenrecht im Studiengang Theologie des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts.


2 Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog (Jg. 1951) war Notar am Interdiözesanen Schweizerischen Kirchlichen Gericht der Schweizer Bischofskonferenz, danach Geschäftsführer der Katholischen Internationalen Presseagentur (Kipa) und des Schweizerischen Katholischen Pressevereins. Später arbeitete er als Chefredaktor der Menschenrechts organisation «Christian Solidarity International». Von 1998 bis 2016 war er Geschäftsführer der Kantonalen Ethikkommission Zürich und u. a. zuständig für das Dossier «Spitalseelsorge» bei der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich.

 

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