Die Bestimmung von fachmässig gut dotierten und erfahrenen Anlauf- und Unterstützungsstellen für Betroffene von sexuellem Missbrauch im kirchlichen Kontext stellt zweifelsohne die wichtigste Massnahme dar, die in der Schweiz auf nationaler Ebene nach der Veröffentlichung des «Berichtes zum Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts» des Historischen Seminars der Universität Zürich vom 12. September 2023 beschlossen wurde. Bekanntlich wurden fünf weitere Massnahmen verabschiedet, die einer wirksamen Prävention an erster Stelle dienen. Viele Anliegen und Herausforderungen in diesem Bereich überschreiten die Zuständigkeiten der einzelnen Bistümer. Eine bessere Koordination, eine engere Zusammenarbeit der Diözesen und ein gezieltes Nutzen von Synergien gehören zum Gebot der Stunde. Die Diözese Chur erachtet dieses Unterfangen als eine wichtige vierte Etappe des anspruchsvollen Weges, der im Jahre 2008 mit der Errichtung eines diözesanen Fachgremiums beschritten wurde. Die Diözese Chur ist bereit, die bisherigen diözesanen Einrichtungen und Vorgänge entsprechend anzupassen. Nun können wir einen Blick auf die drei Etappen werfen, die in den letzten sechszehn Jahren zurückgelegt wurden.
Konstituierung des diözesanen Fachgremiums
Die Konstituierung des diözesanen Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» war wie der erste Meilenstein auf dem langen Weg, Missbräuche in der katholischen Kirche dezidiert zu eliminieren und ein Klima der Achtsamkeit zu erlangen. Darin wirken erfahrene Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeitende und Juristen zusammen mit Ansprechpersonen für die Betroffenen in den drei Regionen des Bistums. Das Prinzip, dass die Ansprechpersonen ganz niederschwellig als Anlaufstelle wirken, wobei die Betroffenen die Entscheidungshoheit bezüglich einer anschliessenden offiziellen Meldung absolut behalten, hat sich bewährt. Erst mit der Einwilligung derselben leiten die Ansprechpersonen einen Fall an das Fachgremium zur Beratung weiter.
Mit der Zustimmung der betroffenen Person lässt das Fachgremium dem Diözesanbischof einen entsprechenden Bericht zukommen. Dennoch hat die Erfahrung gezeigt, dass die Ansprechpersonen nicht immer über die nötige Zeit und über eine ausreichende Vernetzung mit Fachpersonen aus dem juristischen, psychologischen, therapeutischen und wirtschaftlichen Bereich verfügen, die jedoch erforderlich wäre. Weiters stellt sich die Frage der Anzeigepflicht, sofern eine Ansprechperson zugleich staatliche Amtsperson ist. Nicht immer ist klar genug, wann und von wem eine Meldung an die Strafverfolgungsbehörden stattfindet. Dennoch hat dieses System – bis anhin – für die Betroffenen meistens gut funktioniert. Die Realität ist immer vielseitiger und komplexer als die Konzepte. Es gibt nicht wenige Betroffene, die sich direkt beim Bischof oder bei der Bistumsleitung melden und vor allem anstreben, von dieser direkt angehört zu werden. Auf jeden Fall sind die mit der vierten Phase anvisierte Trennung von Anlauf- und Meldestellen sowie die Professionalisierung des Systems dank einer Zusammenarbeit mit den kantonal anerkannten Anlauf- und Beratungsstellen für Gewaltopfer sehr zu begrüssen.
Einführung des Schutzkonzepts
Am 2. April 2019 wurde die zweite Etappe realisiert. An diesem Tag unterschrieben der Diözesanbischof sowie die Präsidentinnen und Präsidenten der sieben kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaften des Bistums Chur das «Schutzkonzept für die seelische, geistige und körperliche Unversehrtheit der Menschen im Bereich des Bistums Chur». Dieses Konzept stellt eine Art diözesane Magna Charta für ein professionelles seelsorgliches Wirken im Bereich «Nähe und Distanz» dar. Es wird im Dokument u. a. festgehalten: «Wenn die Unversehrtheit des Menschen weitsichtiger gesehen und die Wichtigkeit des Schutzes derselben besser verstanden wird, wird erkennbar, dass eine noch umfassendere Prävention von Grenzüberschreitungen und Übergriffen ein prioritäres Ziel sein und bleiben muss.» Das Schutzkonzept machte die Ernennung von diözesanen Präventionsbeauftragten verbindlich, beschrieb bereits das Tätigkeitsfeld derselben und sah schon die Erarbeitung eines Verhaltenskodex vor.
Einführung des Verhaltenskodex
Am 5. April 2022 haben die Verantwortlichen der Bistumsleitung und der Kantonalkirchen den Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht der Öffentlichkeit in Chur präsentiert und sich zugleich der Vorbeugung von Machtmissbrauch und Übergriffen verpflichtet. Man kann hierbei von der dritten Wegetappe sprechen. Der Verhaltenskodex ist das Herzstück der Prävention von spirituellem und sexuellem Missbrauch im Bistum Chur und wurde von den damaligen Präventionsbeauftragten Karin Iten und Stefan Loppacher entwickelt. Die Auseinandersetzung mit sexuellem und spirituellem Missbrauch zeigt mit aller Deutlichkeit, wie wichtig Prävention von Machtmissbrauch ist. Seit seiner Vorlegung ist der Verhaltenskodex für alle kirchlichen Mitarbeiter/-innen, Seelsorger/-innen und Führungspersonen – Bischof inklusive – verbindlich. Er beinhaltet konkrete Checks bzw. Verhaltensstandards, wie in Machtpositionen zu handeln ist – sei es in der Seelsorge, im Religionsunterricht oder als Vorgesetzte/r am Arbeitsplatz. Der Verhaltenskodex koppelt Macht mit Verantwortung und Professionalität. Damit ist er ein wichtiger Schritt in Richtung Ermächtigung und Kritisierbarkeit von Macht. Risiken in Machtpositionen werden ehrlich benannt und ein sorgfältiger Umgang als gemeinsame Qualität definiert. Damit wird eine Kultur der Besprechbarkeit und Transparenz gefördert. Für den kirchlichen Kontext ist dies eine Neuausrichtung und ein Schritt in Richtung Kulturwandel im Umgang mit Macht. Damit erhält die Prävention ein Instrument, das direkt im Alltag sichtbar wird.
Die zwei Pioniere der Prävention in der Diözese verdienen für ihre wegweisende Arbeit lobende Anerkennung. Als Karin Iten im Herbst 2023 und Stefan Loppacher im Sommer 2024 kündigten, konnte man ihre Nachfolge beinahe nahtlos mit zwei bestens qualifizierten Fachfrauen, Dolores Waser Balmer und Elena Anita Furrer, regeln. Beide zusammen bilden weiterhin eine 100-Prozent-Fachstelle, was sich durch die Wichtigkeit der Prävention verantworten lässt. Wie bis anhin wird die Prävention im Bistum Chur finanziell von den sieben staatskirchenrechtlichen kantonalen Körperschaften getragen. Die Anstellung erfolgt über die kantonale Körperschaft Zürich. Fachlich und strategisch sind sie direkt dem Diözesanbischof unterstellt. Beide Frauen ergänzen sich ideal: Waser Balmer bringt lange Erfahrung im Bereich der Prävention von Macht- und sexuellem Missbrauch im Kontext der katholischen Kirche mit; Furrer ist eine Theologin, die gewohnt ist, im Bereich der Ausbildung und Leitung einer grossen Organisation wie der Schweizer Armee zu wirken.
Luis Varandas*