Erstaunen und Befremden löste die Aussage eines Kollegen nach dem 12. September 2023 bei mir aus: «Was haben jetzt alle die Bemühungen im Bereich der Prävention gebracht? Gar nichts. Die können wir uns sparen.» Neben der persönlichen Enttäuschung des Sprechenden wird für mich vor allem deutlich, dass das Verständnis für Prävention immer noch nicht selbstverständlich vorhanden ist.
Ein breit angelegtes Schutzkonzept
Im Bistum St. Gallen dient die kontinuierliche und gezielte Präventionsarbeit seit der Einführung des Schutzkonzeptes 2016 dem Ziel, die «seelische, geistige und körperliche Integrität der Menschen» zu schützen, zu fördern oder wiederherzustellen. Deshalb betreffen die Massnahmen nicht nur den Bereich des sexuellen Missbrauchs, sondern auch den Missbrauch spiritueller Macht, Arbeitsplatzkonflikte, Mobbing sowie psychische und physische Gewalt. Dieser breite Ansatz des Schutzkonzeptes führt dazu, dass in allen Berufsgruppen und in der Freiwilligenarbeit die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen des Missbrauchs stattfinden muss. Deshalb ist Prävention fest verankert im Bereich der Ausbildung (ForModula Jugendarbeit und Katechese), in der Berufseinführung und in der pastoralen Einführung der Seelsorger/-innen und Religionspädagog/-innen. Alle anderen kirchlichen Dienste (Sakristan/-innen, Sekretär/-innen, Kirchenmusiker/-innen) befassen sich damit in ihren berufsspezifischen Tagungen und Weiterbildungen. Alle neu eintretenden Mitarbeitenden, die in ihren Berufsgruppen «durch das Netz rutschen», werden zu einem verbindlichen Einführungstag eingeladen. Darüber hinaus besteht das Angebot für Kirchgemeinden und Pfarreien, mit ihren Freiwilligen diese Themen anzusprechen und dazu Veranstaltungen und Kurse durchzuführen.
Folgende Begriffe sind für die Prävention im Bistum St. Gallen wesentlich:
- Im kirchlichen Miteinander können Grenzen auf vielfältige Weise verletzt werden. Das Unsagbare sagbar machen, heisst lernen, die Themen wahrzunehmen und anzusprechen: alle Themen ansprechen können, das Bewusstsein schaffen für die schiefen Ebenen in unseren Beziehungen (Stichwort: Macht/Abhängigkeit), das Aufnehmen der Sonderprivatauszüge in die Anstellungsverfahren des Personals, klare Fragestellungen in den Mitarbeitendengesprächen, das Hören auf die Betroffenen und das Lernen, aus der Sicht der Betroffenen die eigene Sprache zu überprüfen und zu verändern. Das alles sind Wege, um das Unsagbare sagbar zu machen. Denn tatsächlich ist eine der grossen Schwierigkeiten in dem ganzen Bereich, dass die Themen über viele Jahre gar nicht angesprochen wurden, u. a. weil die Sprache und wohl auch die Ermächtigung dafür fehlte.
- Der Perspektivenwechsel – vom Schutz der Institution zur Perspektive der Betroffenen: Dieser Perspektivenwechsel ist zwar schon länger im Gange, bis er jedoch überall angekommen sein wird, ist Zeit nötig. Das heisst, als Kirche müssen wir lernen, dass das Ansprechen der schwierigen Thematik keine Abkehr vom Sinn der Kirche ist, dass die Kirche vielmehr diese Offenheit braucht und mit all dem Schmerz, der damit verbunden ist, umgehen lernen muss. Als Mitglied der Kirche muss ich heute imstande sein, die Anklagen zu hören und anzunehmen. Ich muss imstande sein, das Stigma, das der Kirche zugeordnet wird, zu tragen und dennoch am Aufbau des Vertrauens weiterzuarbeiten. Es tut weh, auf den Missbrauch angesprochen zu werden und den Kopf für Verbrechen hinzuhalten, die im Rahmen der Kirche begannen wurden, aber nur so wird das Vertrauen in den Perspektivenwechsel allmählich wachsen.
- Das Ringen um die Verhältnismässigkeit der Massnahmen: Der Bereich der Freiwilligenarbeit darf nicht ausgespart, die schwierigen Themen müssen angesprochen werden – und dennoch ist es wichtig, verhältnismässig zu handeln. Das heisst, es gibt Aufgaben in der Freiwilligenarbeit, in denen der Sonderprivatauszug notwendig oder empfohlen ist, und es gibt Bereiche, in denen das eine übertriebene Massnahme wäre, die Misstrauen stiftet. Der Schwierigkeit vor Ort, das richtige Mass zu finden, kann wiederum nur durch das Ansprechen der Themen und eine ehrliche und offene Auseinandersetzung mit ihnen begegnet werden. Von den Freiwilligen wird das mehrheitlich anerkannt und mitgetragen.
Prävention bleibt vorrangiger Auftrag
Prävention ist der Botschaft und dem Menschenbild Jesu geschuldet und nicht dem Missbrauch im 20. Jahrhundert. Prävention bleibt Auftrag aller Christinnen und Christen und ganz besonders der Kirchenleitungen. Sie ist kein «nice to have», sondern konsequente Umsetzung der christlichen Botschaft. Wo das gelingt und praktiziert wird, ist Kirche im Kleinen wie im Grossen lernende Gemeinschaft, denn sie lernt damit auch in die dunklen Ecken der eigenen Existenz zu schauen, nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart.
Zur breit angelegten Prävention im Bistum St. Gallen gehören neben dem Kurs- und Weiterbildungsangebot auch die «Seelsorge für das Personal in den Seelsorgeeinheiten» sowie die offenen Supervisions- und Intervisionsangebote. Dem entsprechen im Bereich der Intervention die Ombudsstelle, die Ansprechpersonen für den Missbrauch geistlicher Macht sowie das Fachgremium, das seit 2002 die Meldung über sexuellen Missbrauch und übergriffiges Verhalten entgegennimmt.
In Folge der Pilotstudie wird das gesamte Melde-, Beratungs- und Interventionswesen neu aufgegleist und auf dem Boden des dualen Systems organisiert und verankert. Ziel der Verantwortlichen ist es, die Qualität des Umgangs mit Betroffenen zu erhalten und gleichzeitig die Transparenz der Verfahren und der Angebote zu erhöhen. Die notwendigen Entscheidungen sind noch nicht spruchreif, aber die Zeit drängt.
Franz Kreissl*