Mit über elf Gigawattstunden wird es das leistungsmässig drittstärkste Kraftwerk der Welt sein. Am Fluss Xhingu, einem Seitenfluss des Amazonas in Brasilien, wird das Wasserkraftwerk Belo Monte, etwa so gross wie der Bodensee, Strom für 60 Millionen Menschen produzieren.
Das mag wirtschaftlich rentabel sein, doch für die Menschen im Gebiet von Belo Monte ist es fatal: Rund 20'000 Menschen müssen umgesiedelt werden. Viele Organisationen sprechen gar von doppelt so vielen Personen. Und dabei ist das Kraftwerk Belo Monte nur eines von vielen Wasserkraft-Projekten, die gebaut werden.
Erneuerbare Energie nicht per se sauber
Hunderte kleinere Dämme wurden in anderen Regionen Brasiliens bereits verwirklicht, unzählige weitere sind geplant – auch in Projektgebieten von Fastenopfer, das mit lokalen Organisationen und indigenen Gemeinschaften zusammenarbeitet. In Matto Grosso berichten Indigene vom Stamm der Manoki, dass es seit dem Bau eines Staudammes neben ihrem Dorf fast keine Fische mehr gibt – für sie eine wichtige Nahrungsquelle. Das Bauunternehmen habe erst mit ihnen Rücksprache genommen, als der Dammbau bereits im Gange war. Nun müssen sie für den Fisch 72 Kilometer über Landstrassen fahren. Personen vom Stamm der Terena erzählen, wie der «Salto Utiariti» für ein Wasserprojekt verbaut werden soll – ein fast 100 Meter hoher Wasserfall und für die Terena ein heiliger Ort.
Der Ausbau der Energiegewinnung durch Wasserkraft ist Teil des nationalen Plans zur Erreichung der Klimaziele. Die eigentlich als «saubere» Energie geltende Wasserkraft treibt aber, wenn derart gross angelegt und mitten in den Regenwald gebaut, den Klimawandel weiter an.1
Gemäss der Indigenenbehörde FUNAI, die sich auf die Volkszählung von 2010 stützt, gibt es in Brasilien 817'963 Indigene aus 305 verschiedenen ethnischen Gruppen. Davon leben etwa eine halbe Million auf dem Land. Auf sie haben solche Energieprojekte im Regenwald grosse Auswirkungen.
Viele haben sich seit dem Bau von Belo Monte kritisch geäussert. Darunter auch Maria Paula Fernandes. Sie ist Direktorin der Kommunikationsagentur «uma gota no oceano» – «Ein Tropfen im Ozean». Ihr Ziel ist es, zusammen mit NGOs auch über die negativen sozialen und ökologischen Folgen von solchen Projekten zu berichten.
Die Menschen über viele Wege erreichen
Um dieses Ziel zu erreichen, hilft ihr die Erfahrung als Fernsehproduzentin bei TV Globo, dem weltweit drittgrössten Fernsehnetzwerk. Schon dort wollte sie die Menschen für soziale Anliegen sensibilisieren, brachte diese Themen sogar in Telenovelas unter, den in Brasilien beliebten Seifenopern. «Wir müssen verschiedene Wege suchen, um die Leute einzubinden», sagt Fernandes. Politische Themen lösten in solchen Fernsehformaten manchmal mehr Diskussionen in der Gesellschaft aus, als der klassische Journalismus es vermöge. Natürlich gelte auch hier Faktentreue, denn die Menschen sollten sich ihre eigene Meinung bilden können.
Fernandes entwickelte auch neue Fernsehsendungen, solche etwa, in denen sich vermehrt Frauen zu politischen oder wissenschaftlichen Themen äusserten. In Brasilien wurde damit vielerorts auch ein neues Frauenbild vorgelebt, welches das Selbstbewusstsein vieler Frauen gestärkt habe, erzählt sie.
Erfolg mit Kampagnenfilm
Ein Jahr Auszeit bei TV Globo hat zum Wunsch geführt, sich für die Rechte der Indigenen im Regenwald einzusetzen. Geblieben von der Zeit beim Fernsehen sind etliche Kontakte zu Experten, national bekannten Schauspielern und Regisseuren. Heute nutzt sie die Popularität der Telenovela-Schauspielern, um mit ihnen Kampagnenfilme zu produzieren. Der erste Film im Jahr 2015 behandelte die Petition zum Bau von Belo Monte. Sechs Millionen Mal wurde ihr Video in den ersten zwei Wochen angeschaut, mehrmals brachen die Server zusammen. «Ihr habt in einer Woche das geschafft, was uns in zehn Jahren nicht gelungen ist», lobten viele die Kampagne von «Uma gota no oceano».
Das Megaprojekt kam trotzdem. «Sie bauen den Damm im Wissen, dass damit viele Leute ihr Land verlieren», sagt Fernandes. Und doch: Keine Kampagne in Brasilien hat je derart viele Menschen erreicht, um die Aspekte von Wasserkraftwerken zu diskutieren. Viele seien davon ausgegangen, dass erneuerbare Energie per se unproblematisch sei, erklärt Fernandes.
Fastenopfer setzt sich zusammen mit «Uma gota no oceano» dafür ein, dass Energieprojekte den lokalen Bedingungen angepasst werden, beispielsweise durch einen auf die Umgebung zugeschnittenen Mix aus erneuerbaren Energieträgern oder durch deren Grösse. Die Bedürfnisse der betroffenen Gemeinschaften müssen höher gewichtet werden als Unternehmensgewinne. Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung oder die Lebensumstände lokaler Gemeinschaften sollen stärker integriert werden.
Dafür suchen «Uma gota no oceano» und Fastenopfer auch weiterhin den Dialog mit den Beteiligten: mit den indigenen Führern, mit der Regierung, mit Konzernen, aber auch mit internationalen Organisationen. Es brauche den internationalen Druck auf die brasilianische Regierung, sagt Fernandes. «In den Flüssen sehen viele Politiker das Potenzial, Geld zu machen, und nicht die Lebensräume und die Ernährungsquelle für die lokale Bevölkerung.»
Die verschiedenen Parteien weiterhin zusammenbringen
Ihre Zuversicht lässt sich Fernandes nicht nehmen. Die brasilianische Zivilbevölkerung erlebt sie als offen und hilfsbereit – obwohl viele selber Unterstützung nötig hätten. Sich für die eigenen Überzeugungen einzusetzen, habe viele Brasilianer selbstbewusster gemacht, führt sie fort. Den Willen, etwas gegen die derzeitigen Tendenzen tun zu wollen, spüre sie in Brasilien momentan sehr stark. Auch seien viele enttäuscht von der Regierung, die immer wieder durch Korruption von sich reden macht und Profit vor alles stellt. Ex-Präsident Lula da Silva wurde unlängst wegen Korruption und Geldwäsche verurteilt.
Auf die Frage, ob ein einziger Mensch in der Gesellschaft – «uma gota no oceano» oder eben ein einzelner Tropfen im Ozean – etwas bewirken könne, sagt sie: «Wir müssen nicht riesig sein, nur alle zusammenbringen zu einem grossen Ozean, einer grossen Bewegung. Letztlich ist es ein einziger Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt.» Und sie fügt die Worte von Mutter Teresa an: «Was wir bewirken, ist kaum mehr als ein Tropfen im Ozean. Aber wenn wir tatenlos blieben, fehlte dem Ozean gerade dieser eine Tropfen.» Für Maria Paula Fernandes ist wichtig: «Jeder Tropfen im Meer hat dieselbe Grösse, und deshalb auch dieselbe Wichtigkeit. Das ist so demokratisch.»
Madlaina Lippuner