Der bekannte Theologe Massimo Faggioli wies kürzlich auf Twitter im Kontext der von Missbrauch geschüttelten Kirche (nicht nur) der Vereinigten Staaten auf eine besondere Verantwortung der kirchlich gebundenen Ausbildungs- stätten für Orientierung und Reform hin. Bereits im Mai machte er auf das Problem aufmerksam, dass sich die akademische Theologie in den vergangenen Jahrzehnten vielfach von der kirchlichen Kontrolle emanzipiert habe, dass sich daraufhin die kirchliche Seite ihrerseits aber umso leichter der akademischen Theologie entziehen konnte. Demgegenüber unterstrich Faggioli die ekklesiale Verantwortung der Theologie.1
Diese Diagnose dürfte über die Vereinigten Staaten hinaus bedeutsam sein, insofern sie die prinzipielle Spannung der Theologie zwischen Kirchlichkeit und Wissenschaftlichkeit, zwischen akademischer und ekklesialer Verantwortung betrifft. So sehr wissenschaftliche Theologie Interesse an akademischer Freiheit hat, so sehr hat sie, gerade in Zeiten von Umbrüchen und geradezu abgründigen Konstellationen, einen kirchlichen Auftrag.
In diese Spannung ist die Theologische Hochschule Chur schon durch ihre Gründungsgeschichten hineingestellt.
Zwei Gründungsgeschichten
Die erste Gründungsgeschichte reicht in den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. 1807 wurde in den Gebäuden des ehemaligen Prämonstratenserklosters St. Luzi ein Priesterseminar und damit verbunden eine theologische Ausbildungsstätte errichtet. So erhielt endlich auch das Bistum Chur ein Priesterseminar – wie im Konzil von Trient fast 250 Jahre vorher angeordnet. Diese erste Gründung hat bis heute die Folge, dass die Theologische Hochschule Chur eine kirchliche Einrichtung ist.
Die zweite Gründung, die in diesem Jubiläumsjahr erinnert wird, stellt eine (um einiges spedi- tivere) Antwort auf das Zweite Vatikanische Konzil dar. Nur wenig mehr als zwei Jahre nach dessen Abschluss, am 23. Februar 1968, wurde die Churer Ausbildungsstätte auf Initiative des damaligen Regens und späteren Churer Bischofsvikars Alois Šuštar in die Theologische Hochschule Chur (Institutum Superius Theologicorum Studiorum) überführt. Diese zweite Gründung hebt nicht den kirchlichen Charakter der Hochschule auf, verweist sie aber aus dem binnenkirchlichen Bereich heraus auf die akademische «scientific community» und auf den gesellschaftlichen Kontext. Diese dialogische Ausrichtung entspricht den mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil angestossenen Umbrüchen.
Konkretisieren lässt sich die in dieser zweiten Gründung implizierte zentrifugale Ausrichtung exemplarisch an zwei Aspekten.
Akademische Situierung
Mit der Erhebung zu einer Hochschule ging 1968 die Berechtigung einher, das Diplom in Theologie zu verleihen, 1973 auch das Lizenziat. Mit der Erlangung des Rechtes, das Doktorat zu verleihen, wurde die Hochschule 2003 einer Fakultät gleichgestellt (Institutum theologicum ad instar facultatis).
Die institutionelle Neusituierung von 1968 brachte es mit sich, dass es der kirchlichen Ausbildungsstätte künftig erlaubt und abverlangt war, sich an universitären Massstäben zu orientieren. Dass dies seit 1968 – bei steigendem Tempo der Universitätsreformen vor allem im sogenannten Bolognaprozess – kontinuierlich gelungen ist, kann heute an der für universitäre Einrichtungen unabdingbaren formellen Akkreditierung der Hochschule (seit 2006) abgelesen werden. Dabei wurden die zurückliegenden Akkreditierungsverfahren zum Anstoss für Entwicklungen etwa im Bereich von Kooperationen und von wissenschaftlicher Nachwuchsförderung.
Gesellschaftliche Relevanz
In der zweiten Gründungsgeschichte formulierte die vatikanische Studienkongregation gegenüber der neu etablierten Hochschule die Erwartung, dass sie sich um eine staatliche Anerkennung ihrer akademischen Abschlüsse bemühen solle. Die entsprechenden Bestrebungen waren erfolgreich, insofern der Kanton Graubünden die akademischen Abschlüsse seit 1976 anerkennt und die Hochschule seit 2002 finanziell unterstützt. Damit einher ging und geht die Verpflichtung der Hochschule, gegenüber politischen Behörden transparent zu agieren. Diese Rechenschaftspflicht gegenüber ausserkirchlichen Instanzen veranschaulicht, dass die Hochschule ein Akteur in der gesellschaftlichen Bildungslandschaft ist und sein will. Den entsprechenden gesellschaftspolitischen und kulturellen Auftrag nimmt die Hochschule unter anderem durch kantonale Kooperationen, öffentliche Veranstaltungen und mediale Präsenz wahr. Wo möglich, sucht die Hochschule dafür die ökumenische Zusammenarbeit mit der Evangelisch-reformierten Landeskirche Graubünden.
Herausforderung und Auftrag
Vor diesem Hintergrund entfaltet die Theologische Hochschule seit 50 Jahren ihre besondere Eigenart im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft. Dieses Profil exponiert sie ebenso, wie es ihr eine spezielle Verantwortung gibt.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich mehrfach gezeigt, dass eine diözesan verankerte Ausbildungsstätte von ortskirchlichen Krisen emp- findlich getroffen werden kann. So stand nach der Bistumskrise in den 1990er-Jahren die Weiterexistenz der Hochschule infrage. Von Führungskrisen, Konflikten und Polarisierungen im Bistum war und ist sie zumindest atmosphärisch direkt mitbetroffen. Zugleich hat die Hochschule in diesen prekären Situationen das notwendige Standvermögen bewiesen. Entscheidend dafür ist eine breite diözesane Unterstützung ebenso wie die Tatsache, dass auch die kirchlichen Vorgaben strukturell den Hochschulgremien die operative Leitung und die Ausrichtung des Lehr- und Forschungsbetriebs nach wissenschaftlichen und akademischen Kriterien zuerkennen. In diesem Sinne wahrt die kirchliche Verfasstheit der Hochschule durchaus jene akademische Freiheit, welche den staatlichen theologischen Fakultäten selbstverständlicher eignet.
Wohl allerdings bewegt sich die Theologische Hochschule Chur als kirchliche Einrichtung in engem Kontakt zum kirchlichen Leben und pflegt Beziehungen zu den verschiedenen diözesanen und schweizweit überdiözesanen Akteuren. Neben Pfarreien, Dekanaten und Fachstellen sind dies die staatskirchenrechtlichen Körperschaften der Bistumskantone, welche die Hochschule finanziell und ideell unterstützen. Durch diese Vernetzung steht die Hochschule umgekehrt in der Pflicht, auf die Nöte und Desiderate konkreter Situationen in kritischer Reflexion zu antworten. Im Sinne der anfangs erwähnten Diagnose Faggiolis kommt die Erwartung, zu Orientierung und Reform beizutragen, bei einer kirchlichen Institution sehr direkt an. Pointierter formuliert: Ihre konkrete Nähe und gegebenenfalls sogar eigene Betroffenheit von kirchlichen Krisen erhöht den Leidensdruck, sich auch im wissenschaftlichen Metier der Theologie auf die ekklesialen Problemfelder einzulassen.
So versteht sich die Theologische Hochschule Chur nicht zuletzt durch ihr Pastoralinstitut dezidiert als Kompetenzzentrum in den Fragen und Entwicklungen der Kirche und der pastoralen Praxis. Zu nennen ist auch die Selbstverpflichtung, eine praxistaugliche Ausbildung anzubieten, die wissenschaftliche, pastorale und spirituelle Akzente setzt. Dabei geht es nicht um eine Reduktion der akademischen Qualität. Doch die Bedürfnisse der künftigen Praxis dürfen nicht exklusiv einer kirchlichen Parallelausbildung überlassen werden. Um es zuzuspitzen: Es darf keine Schizophrenie zwischen wissenschaftlicher und kirchlicher Ausbildung geben.
In einer von Krisen gezeichneten Kirche braucht es eine Theologie, die sich in kirchliche Zusammenhänge involvieren lässt und dabei gleichwohl ein kritisches Korrektiv darzustellen vermag. Die Theologische Hochschule Chur wird sich in diesem Spannungsfeld auch künftig engagieren.
Eva-Maria Faber